Amnesty International hat das Schweizer Parlament aufgefordert, alle Formen des nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs als Vergewaltigung zu definieren und die Artikel 189 (sexuelle Nötigung) und 190 (Vergewaltigung) des Strafgesetzbuches anzupassen. Bisher hat die Rechtskommission des Ständerates einen wichtigen Schritt gemacht und zwei Varianten für Artikel 189 und 190 erarbeitet. In beiden Varianten würde die Nötigung als zwingendes Tatbestandselement wegfallen; in der aktuell von der Mehrheit der Kommission bevorzugten Variante würden sexuelle Handlungen «gegen den Willen» einer Person bestraft, in der zweiten Variante jene «ohne die Zustimmung». Nach dem sich der Ständerat für den unzureichenden «Nein heisst Nein»-Ansatz ausgesprochen hat, diskutiert der Nationalrat voraussichtlich in der Wintersession über die beiden Vorlagen. Eine zeitgemässe Revision des Sexualstrafrechts geniesst breite Unterstützung, unter anderem von Strafrechtsprofessor*innen, Opferanwält*innen und der Opferberatung. Kritik wurde von Seiten von gewissen Strafverteidiger*innen laut. Zum Prinzip der Einwilligung (Consent) wurden auch diverse Behauptungen in Umlauf gesetzt. Von «Beweislastumkehr» ist die Rede, von der drohenden «Aufhebung der Unschuldsvermutung» oder gar vom «Ende des Rechtstaats». Andere sehen schon den «Anwalt im Bett». Eine Klärung.
Behauptung 1: «Der Angeklagte müsste seine Unschuld beweisen (Beweislastumkehr).»
Behauptung 3: «Wird die Forderung umgesetzt wäre dies das Ende des Rechtstaats.»
Behauptung 4: «Es droht eine Welle von Falschbeschuldigungen.»
Behauptung 5: «Es braucht vor dem Sex einen Vertrag, am besten per App festgehalten.»
Behauptung 7: «Amnesty hat als Menschenrechtsorganisation in dieser Frage nichts verloren.»
Behauptung 1: «Der Angeklagte müsste seine Unschuld beweisen (Beweislastumkehr).»
Fakt ist: Die beschuldigte Person wird auch künftig nichts beweisen müssen. Es ist weiterhin Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die Schuld der Tatperson nachzuweisen. Weiterhin gilt: Jede*r gilt als unschuldig, bis das Gericht die Schuld bewiesen hat. Das Prinzip «in dubio pro reo» («im Zweifel für den Angeklagten») wird nicht angetastet. Bleiben Zweifel am Tathergang, würde die beschuldigte Person freigesprochen. Niemand fordert eine Abkehr von der Unschuldsvermutung. Die Reform will einzig, dass in Fällen, in denen es das Gericht für erwiesen hält, dass sich der oder die Beschuldigte vorsätzlich über die fehlende Zustimmung des Opfers hinweggesetzt hat, eine angemessene Bestrafung möglich ist. Das ist derzeit nicht immer der Fall.
Behauptung 2: «Es würde doch sowieso immer Aussage gegen Aussage stehen – eine solche Tat ist unmöglich zu beweisen.»
Die Aussagen des Opfers sind auch heute schon bei Sexualdelikten meist das zentrale und manchmal sogar das einzige Beweismittel. Die Glaubhaftigkeit von Aussagen zu beurteilen, gehört zum Arbeitsalltag der Strafverfolgungsbehörden. Sie verfügen über etablierte Methoden, um diese Aufgabe zu bewältigen und nutzen dafür unter anderem die Erkenntnisse und Methoden der Aussagenpsychologie. In besonders schwierigen Fällen können auch Spezialist*innen hinzugezogen werden. Und wenn selbst dann nicht hinreichend geklärt werden kann, was genau passiert ist, greift am Ende auch künftig der «in dubio»-Grundsatz. Das heisst, die schwierige Beweislage wirkt sich nicht zu Ungunsten der beschuldigten Person aus. So wie dies ja bereits heute der Fall ist: Auch eine Gewaltanwendung hinterlässt nicht immer eindeutige Spuren und eine Drohung schon gar nicht, und trotzdem trauen wir den Strafverfolgungsbehörden zu, solche Delikte aufzuklären und zu verfolgen. In Schweden, wo eine Zustimmungslösung 2018 eingeführt wurde, hat sich die Beweisführung nicht wesentlich verändert.
Behauptung 3: «Wird die Forderung umgesetzt wäre dies das Ende des Rechtstaats.»
Wer dies behauptet, müsste demzufolge auch der Ansicht sein, dass der Rechtsstaat in Ländern wie Grossbritannien, Belgien, Deutschland und Schweden ausser Kraft gesetzt ist. In dreizehn Ländern des europäischen Wirtschaftsraumes wird heute bereits Geschlechtsverkehr ohne Zustimmung bzw. gegen den Willen als Vergewaltigung definiert. In weiteren Staaten (u.a. Spanien und den Niederlanden) sind entsprechende Reformen auf dem Weg. Sie haben das Ziel, mehr Gerechtigkeit für von sexualisierter Gewalt Betroffene zu erlangen und die Straflosigkeit bei sexuellen Gewaltdelikten zu reduzieren. Zudem soll durch die Gesetzesänderung klargestellt werden, dass die Gesellschaft nichteinvernehmliche sexuelle Handlungen nicht toleriert und als erhebliches Unrecht betrachtet. Eine repräsentative Umfrage von gfs.bern im Auftrag von Amnesty International hat in der Schweiz 2019 ein schockierendes Ausmass sexualisierter Gewalt an Frauen aufgezeigt. Demnach hat mindestens jede fünfte Frau ab 16 Jahren einen sexuellen Übergriff erlebt, mehr als jede zehnte Frau erlitt Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. Gemäss der Umfrage unterstützen 84 Prozent der Frauen die Forderung von Amnesty International, wonach jedes sexuelle Eindringen in den Körper ohne gegenseitige Zustimmung als Vergewaltigung gelten muss.
Behauptung 4: «Es droht eine Welle von Falschbeschuldigungen.»
Auch das ist eine Behauptung, die empirisch nicht belegt ist. Es handelt es sich um einen besonders hartnäckigen Mythos, welcher auf Geschlechterstereotypen beruht («rachsüchtige Frau») und dazu führt, dass Opfern von sexialisierter Gewalt fast reflexartig mit Misstrauen begegnet wird. Die Realität ist, dass es von Betroffenen viel Mut und Kraft erfordert, eine Tat überhaupt bei der Polizei anzuzeigen. Ein Strafverfahren ist für die betroffene Person häufig eine enorme Belastung, nicht selten wird ihre Person, ihr Ruf und ihre Glaubwürdigkeit vom Beschuldigten oder gar von Strafverfolgungsbehörden auf verletzende Weise infrage gestellt und angezweifelt. Mit Fragen und Vorhaltungen wird Opfern von Sexualdelikten nicht selten der Eindruck vermittelt, sie seien selbst schuld an der Tat oder sie hätten sie zumindest mitverursacht. Dieser Umgang mit Opfern ist teilweise schlicht notwendiger Bestandteil eines Strafverfahrens, teilweise aber auch unnötiger Ausdruck von tief verankerten Vergewaltigungsmythen.
Das Argument der Gefahr von Falschanschuldigungen wird immer angeführt, wenn das Sexualstrafrecht revidiert werden soll, meistens ohne irgendwelche empirischen Grundlagen, die diese Behauptungen auch belegen würden. Ja, es gibt falsche Anschuldigungen, das lässt sich nicht bestreiten, die gibt es aber bei jeder Deliktsart und sie sind auch strafbar. Die (notorisch überschätzte) «Gefahr» von falschen Anschuldigungen hängt aber ohnehin nur bedingt mit der konkreten Ausgestaltung des Tatbestandes zusammen. Untersuchungen zeigen, dass (mutmassliche) Falschbeschuldigerinnen sich oft am Stereotyp einer «echten» Vergewaltigung orientieren und von Gewaltanwendung berichten – also ein Verhalten schildern, das selbst in den strengsten Rechtsordnungen als Vergewaltigung gelten würde. Mit anderen Worten: Falschbeschuldigungen sind immer möglich, egal wie eng ein Tatbestand definiert wird.
Zeugenaussagen von sexualisierter Gewalt Betroffenen sollten genauso behandelt werden wie Zeugenaussagen von Opfern aller anderen Verbrechen auch. Amnesty International fordert weder, dass man Betroffenen automatisch glauben soll, noch dass die Unschuldsvermutung abgeschafft werden oder eine Beweislastumkehr stattfinden soll. Amnesty fordert aber, dass mit Opfern von Sexualdelikten respektvoll umgegangen wird. Dazu gehört, dass den Betroffenen in erster Linie unvoreingenommen zugehört wird, ihre Aussagen und Vorwürfe gründlich untersucht werden, und ihnen die Unterstützung zukommt, auf die sie Anspruch haben. Nicht mehr und nicht weniger.
Behauptung 5: «Es braucht vor dem Sex einen Vertrag, am besten per App festgehalten.»
Nein: Das braucht es definitiv nicht. Auch den Anwalt kann man getrost im Büro lassen. Weder eine App noch ein Vertrag o.ä. machen Sinn. Denn die Zustimmung zu einer sexuellen Handlung muss man jederzeit widerrufen können – das lässt sich mit einer App natürlich nicht umsetzen. Ausserdem wäre das ohnehin der falsche Ansatz: Es geht um Kommunikation, die geht verbal und nonverbal. Am erotischen Spiel zwischen mündigen Partner*innen ändert sich nichts. Wenn die involvierten Personen beispielsweise vor oder während dem Sex schweigen, aber voll bei der Sache sind, nennt sich das «konkludentes Verhalten», welches Zustimmung bedeutet. Dann wollen die Partner*innen den Sex und von einem Übergriff kann keine Rede sein. Und wer dann mittendrin seine Meinung ändert, muss die*der Partner*in irgendwie mitteilen und zeigen, dass das vorherige «Ja» nicht mehr gilt.
Im Kern geht es um etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: Dass nur einvernehmlicher Sex in Ordnung ist. Das ist für die meisten Leute zum Glück schon heute völlig klar und das Normalste der Welt, und auch unter Einwohner*innen der Schweiz klar die überwiegende Erwartung, wie eine repräsentative Umfrage 2022 von gfs.bern gezeigt hat. Es gibt aber leider Ausnahmen. So zeigen die Resultate der Umfrage von gfs.bern, dass rund jede fünfte Person es eher als Einwilligung zu Sex empfindet, wenn das Gegenüber früher irgendwann einmal zugestimmt hat und jede zehnte Person, wenn die Person aktuell zwar schläft, aber sonst immer zustimmt. Ebenfalls rund jede zehnte Person findet, Geschlechtsverkehr mit dem/der Partner*in sei unter bestimmten Umständen in Ordnung, auch wenn das Gegenüber aktuell nicht zugestimmt hat. Eine frühere Studie in der EU hatte ergeben, dass mehr als einer von vier Befragten der Meinung ist, dass Geschlechtsverkehr ohne Zustimmung unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann – beispielsweise, wenn das Opfer betrunken ist oder unter dem Einfluss von Drogen steht, freiwillig mit jemandem nach Hause geht, leicht bekleidet ist, nicht klar «Nein» sagt oder sich physisch nicht wehrt. Hier braucht es Aufklärungsarbeit und ein modernes Sexualstrafrecht, das klare Grenzen zieht.
Behauptung 6: «Unsere heutige Rechtslage genügt. Zwischen Nein sagen und dem sexuellen Akt liegt zwingend eine nötigende Handlung (Festhalten, Drohen, psychisch unter Druck setzen). Das ist nach geltendem Recht bereits eine Vergewaltigung.»
Auch das ist falsch: Ein explizites «Nein» genügt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung in der Schweiz nicht (nachzulesen im Bundesgerichtsentscheid 6B_912/2009 vom 22. Februar 2010)
Opferanwält*innen und Opferberatungsstellen betonen immer wieder die Schwierigkeiten, denen Betroffene heute beim Zugang zur Justiz ausgesetzt sind. Oftmals müssen sie den Betroffenen erklären, dass eine Anzeige aussichtslos ist, weil nicht ausreichend psychischer Druck, Gewalt oder Bedrohung angewandt wurde und der Fall deshalb nicht in die aktuelle strafrechtliche Definition von Vergewaltigung oder sexueller Nötigung passt. Der Fokus liegt heute bei Einvernahmen und im Gerichtssaal darauf, ob die beschuldigte Person ein Nötigungsmittel verwendet hat. Hat die Person ohne Einwilligung gehandelt oder sich über ein ausdrückliches «Nein» des Opfers hinweggesetzt, aber kein Nötigungsmittel wie Gewalt oder Drohung angewendet, kann die Tat nicht als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung bestraft werden. Der Frage, ob gegenseitige Zustimmung zu sexuellen Aktivitäten vorlag, wird zu wenig Gewicht beigemessen.
Opferanwält*innen und Opferberatungsstellen sagen, dass viele Betroffene, die nichteinvernehmlichen Sex erlebt haben und sich nicht körperlich dagegen gewehrt haben, befürchten, ihnen werde bei der Polizei oder vor Gericht sowieso nicht geglaubt. Frauen, die sich nicht (genügend) gewehrt haben, wird heute oft eine Mitschuld zugeschrieben. Auch deshalb sollte das Strafgesetzbuch hier eine klare Linie vorgeben und klar und deutlich sagen, dass die fehlende Einwilligung das zentrale Unrecht ist und nicht ein bestimmtes Mass an Gewalt.
Behauptung 7: «Amnesty hat als Menschenrechtsorganisation in dieser Frage nichts verloren.»
Fakt ist: Vergewaltigung und andere sexuelle Übergriffe sind ein schwerer Angriff auf die körperliche Integrität und sexuelle Selbstbestimmung eines Opfers. Internationale und regionale Menschenrechtsnormen verpflichten die Schweiz, Massnahmen zu ergreifen, um Personen vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen, alle Verletzungen der sexuellen Integrität zu untersuchen und zu bestrafen und den Opfern eine Wiedergutmachung zu gewähren. Deshalb unser Engagement in der Sache.