«Was hattest du an?» «Hast du getrunken?» «Wieso bist du da überhaupt hingegangen?»
80 bis 90 Prozent der Leute, denen ich erzählt habe, was passiert ist, haben ähnlich reagiert – mit Victim Blaming. Die Leute haben die Tat verharmlost. Mich hat kaum jemand gefragt: «Was brauchst du, damit es dir besser geht?» Es wurde immer nur mit dem Finger auf mich gezeigt. Wirklich einfühlsam hat niemand reagiert – ausser Fachpersonen von der Opferhilfe, meine Anwältin oder mein Psychiater. Die Gesellschaft muss mit dem Victim Blaming aufhören, weil das genauso belastend ist wie die Tat selbst.
Ich habe mich entschieden, Anzeige gegen den Täter zu erstatten. Das Verfahren zieht sich jetzt schon seit vier Jahren hin. Teilweise habe ich mich gefühlt, als wäre ich der Täter und der Täter wäre das Opfer.
Die Polizei hat mich gefragt, ob ich schon immer einen Dreier wollte. Tanja, von sexualisierter Gewalt Betroffene
Ich habe so viele Stunden in Verhören verbracht: Bei der ersten Anzeige waren es 3,5 Stunden, bei der zweiten Befragung bei der Polizei waren es 8 Stunden. Die Polizei hat mich gefragt, ob ich schon immer einen Dreier wollte. Das hat nichts mit der Tat zu tun. Wir reden hier nicht über sexuelle Vorblieben, wir reden über Gewalt. Doch das schien egal. Ich habe der Polizei gesagt, dass ich das Gefühl habe, der Täter hat das nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal gemacht. Ihre Antwort: «Uns interessieren nur die Fakten, nicht die Gefühle.» Ich hätte von der Polizei erwartet, dass sie meine Anzeige und auch meine Befürchtung ernster genommen hätten. Vielleicht hätte man die ein oder andere Tat da verhindern können. Denn ich habe herausgekriegt, dass der Täter – wenn die Anschuldigungen stimmen – das schon seit zehn Jahren macht.
Seitdem ich weiss, dass ich wahrscheinlich nicht sein einziges Opfer war, ist es mir noch wichtiger, dass es einen Schuldspruch gibt. Ich habe ein paar Mal überlegt, die Anzeige zurückzuziehen, weil ich die ständigen Befragungen nicht mehr ertragen habe. Aber ich habe es nicht gemacht. Denn es macht mich wütend, dass so viele Menschen Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt erleben und dann im Dunkeln leben müssen, weil sie sich schämen. Dass sie keine Anzeige erstatten, weil sie denken, sie haben sowieso keine Chance - was in vielen Fällen leider auch stimmt. Ich will anderen Mut machen. Deshalb kämpfe ich weiter und rede über das, was mir angetan wurde.
* Die Tat gilt gemäss dem heutigen Schweizer Sexualstrafrecht nicht als Vergewaltigung, sondern als sexuelle Schändung.