Der englischsprachige Bericht «My Eye Exploded – The global Abuse of kinetic impact projectiles» entstand in Zusammenarbeit mit der Stiftung Omega Research Foundation und basiert auf Recherchen in mehr als 30 Ländern aus den vergangenen fünf Jahren. Der Bericht dokumentiert, wie Tausende von Demonstrierenden und Passant*innen durch den oft rücksichtslosen und unverhältnismässigen Einsatz von sogenannt «weniger tödlichen Waffen» dauerhafte Verletzungen erlitten haben; Dutzende wurden durch die Geschosse getötet. Zum Einsatz kamen beispielsweise Gummi- und Plastikgeschosse sowie gummierte Schrotkugeln und Tränengasgranaten, die direkt auf Demonstrierende abgefeuert wurden.
«Dringend nötig sind wirksame Richtlinien für die Anwendung von Gewalt durch Polizeikräfte.» Patrick Wilcken, Experte für Militär-, Sicherheits- und Polizeithemen bei Amnesty International
«Um den eskalierenden Missbrauch zu stoppen, braucht es rechtlich bindende globale Kontrollen für die Herstellung und den Handel mit solchen Waffen, die als ‚weniger tödlich gelten‘ – wie Gummi- und Plastikgeschosse. Dringend nötig sind zudem wirksame Richtlinien für die Anwendung von Gewalt durch Polizeikräfte», sagte Patrick Wilcken, Experte für Militär-, Sicherheits- und Polizeithemen bei Amnesty International.
Amnesty International und die Omega Research Foundation gehören zu 30 Organisationen, dies sich mit den Vereinten Nationen für die Kontrolle des Handel mit Folterwerkzeugen einsetzen. In einem internationalen Abkommen sollen Herstellung und Handel von gewissen Ausrüstungsgegenständen verboten und der Handel mit Gummi- und Plastikgeschossen auf Grundlage menschenrechtlicher Standards reguliert werden.
«Ein Abkommen zur Kontrolle des Handels mit Folterwerkzeugen würde die gesamte Herstellung und den Handel mit häufig missbräuchlich eingesetzten Waffen und Ausrüstungsgegenständen für Polizeieinsätze verbieten. Dazu gehören inhärent gefährliche oder unpräzise kinetische Aufprallwaffen, gummibeschichtete Metallgeschosse, gummierte Schrotkugeln und Munition mit mehreren Projektilen, die zu Erblindung, anderen schweren Verletzungen und Todesfällen geführt haben», sagt Dr. Michael Crowley, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Omega Research Foundation.
Gravierende Verletzungen
Diese Waffen haben in Hunderten von Fällen weltweit dauerhafte Behinderungen verursacht und viele Menschen das Leben gekostet. Es gab in den letzten Jahren eine besorgniserregende Zunahme bei Augenverletzungen wie Rissen im Augapfel und Netzhautablösungen; in manchen Fällen kam es zum vollständigen Verlust des Augenlichts. Ausserdem waren Knochen- und Schädelbrüche, Hirnverletzungen, Rupturen innerer Organe und Blutungen, Herz- und Lungenverletzungen durch gebrochene Rippen die Folge, wie auch Schäden an den Genitalien und psychische Traumata.
Nach Schätzungen des chilenischen Nationalen Instituts für Menschenrechte führten die Polizeieinsätze während der Proteste in Chile, die im Oktober 2019 begannen, zu mehr als 440 Augenverletzungen, darunter mehr als 30 Fälle von Augenverlust oder Augapfelrisse.
Gemäss einer Auswertung medizinischer Berichte aus der Zeit zwischen 1990 und Juni 2017 starben in diesem Zeitraum mindestens 53 Menschen weltweit durch Projektile, die von Sicherheitskräften bei Protesten abgefeuert wurden.
Gemäss einer Auswertung medizinischer Berichte aus der Zeit zwischen 1990 und Juni 2017 starben in diesem Zeitraum mindestens 53 Menschen weltweit durch Projektile, die von Sicherheitskräften bei Protesten abgefeuert wurden. 300 der insgesamt 1984 verletzten Personen erlitten gemäss der Studie eine dauerhafte Behinderung. Die tatsächlichen Zahlen dürften weit höher liegen.
Der Bericht von Amnesty International und Omega Research Foundation hält fest, dass nationale Leitlinien für den Einsatz von Gummigeschossen nur selten den internationalen Standards für die Anwendung von Gewalt entsprechen. Diese besagen, dass ihr Einsatz auf Situationen beschränkt sein muss, in denen gewalttätige Personen eine unmittelbare Bedrohung für andere Menschen darstellen.
Polizeikräfte verstossen regelmässig gegen diese Vorschriften, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Verfügbarkeit, die Vielfalt und der Einsatz von Gummigeschossen hat weltweit zugenommen und die Militarisierung der Polizeiarbeit bei Protesten wurde vorangetrieben.
Waffen auch in der Schweiz in Frage gestellt
Die Schweiz unterstützt die Ausarbeitung eines Vertrags gegen den Handel mit Folterwerkzeugen, der auch kinetisch wirkende Geschosse beinhalten soll. In der Schweiz selbst wirft der Einsatz von Gummigeschossen durch die Polizei jedoch Fragen auf. Verschiedene Medien haben wiederholt über schwere Verletzungen berichtet, die durch den Einsatz solcher Geschosse verursacht wurden. Auch in der Schweiz ist es daher notwendig, den Einsatz von kinetischen Aufprallgeschossen zu untersuchen.
Zahlreiche Fälle auf der ganzen Welt
Im April 2021 wurde in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá die damals 22-jährige Leidy Cadena Torres auf dem Weg zu einem Protest gegen Steuerreformen von einem Gummigeschoss ins Gesicht getroffen. Dieses war aus nächster Nähe von einem Bereitschaftspolizisten abgefeuert worden. Leidy Cadena Torres verlor dadurch ein Auge. «Ich wusste nicht, was da gerade passiert, also habe ich mein Mobiltelefon genommen und mich selbst fotografiert, ohne etwas sehen zu können», berichtet sie Amnesty International. «Sie versuchen, dir eine sichtbare Verletzung zuzufügen, wie den Verlust eines Auges, um den Menschen Angst zu machen, damit diese nicht rausgehen [und protestieren].»
«Sie versuchen, dir eine sichtbare Verletzung zuzufügen, wie den Verlust eines Auges, um den Menschen Angst zu machen, damit diese nicht rausgehen [und protestieren].» Leidy Cadena Torres, Opfer von Polizeigewalt in Kolumbien
Gustavo Gatica, ein 22-jähriger Psychologiestudent, ist auf beiden Augen erblindet, nachdem er während der Proteste gegen soziale Ungleichheit in Chiles Hauptstadt Santiago am 8. November 2019 von gummibeschichteten Metallgeschossen der Polizei ins Gesicht getroffen wurde. Bis heute wurden die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen.
Er sagte Amnesty International kürzlich: «Ich fühlte, wie das Wasser aus meinen Augen rann ... aber es war Blut.» Er hat die Hoffnung, dass seine Verletzungen einen Wandel herbeiführen und verhindern können, dass anderen das Gleiche geschieht: «Ich habe mein Augenlicht gegeben, um die Menschen aufzurütteln.»
Fälle wie diejenigen von Leidy Cadena Torres und Gustavo Gatice, in denen es zu einer Erblindung kam, haben sich während der jüngsten und aktuellen Proteste mit alarmierender Regelmässigkeit unter ähnlichen Umständen in süd- und mittelamerikanischen Staaten, in Europa, dem Nahen Osten, Afrika und den USA wiederholt.
Gummigeschosse werden immer häufiger eingesetzt
In den USA wird der Einsatz von Gummigeschossen zur Unterdrückung friedlicher Proteste immer üblicher. Ein Demonstrant, der am 31. Mai 2022 in Minneapolis ins Gesicht getroffen wurde, berichtete Amnesty International Folgendes: «Mein Auge ist durch den Aufprall des Gummigeschosses explodiert und meine Nase hat sich von der Stelle, wo sie sein sollte, unter das andere Auge geschoben. In meiner ersten Nacht im Spital haben sie die Einzelteile meines Auges eingesammelt und wieder zusammengenäht. Dann haben sie meine Nase wieder an die Stelle gerückt, an der sie sein sollte, und sie neu geformt. Sie haben mir eine Augenprothese eingesetzt, sodass ich jetzt nur noch mit dem rechten Auge sehen kann.»
In Spanien hat der Einsatz tennisballgrosser, von Natur aus ungenauer Gummigeschosse nach Angaben der Kampagnenorganisation Stop Balas de Goma zu mindestens einem Todesfall durch Schädeltrauma und 24 schweren Verletzungen geführt, darunter 11 Fälle von schweren Augenverletzungen. In Frankreich wurden bei einer medizinischen Untersuchung von 21 Patienten, die unter Gesichts- und Augenverletzungen durch Gummigeschosse litten, schwere Verletzungen festgestellt, darunter Knochenabsplitterungen, Frakturen und Rupturen, die zur Erblindung führten.
Amnesty International hat auch Fälle in Chile, Kolumbien, Ecuador, Frankreich, Guinea, Hongkong, Iran, Irak, Peru, Sudan, Tunesien, Venezuela und im Gazastreifen dokumentiert, in denen Tränengasgranaten direkt auf Einzelpersonen oder auf Menschenmengen abgefeuert wurden.
Im Irak haben Sicherheitskräfte 2019 gezielt mit Spezialgranaten, die zehnmal schwerer sind als herkömmliche Tränengasmunition, auf Demonstrierende gezielt, was zu schlimmen Verletzungen und mindestens zwei Dutzend Todesfällen führte. In Tunesien starb der 21-jährige Haykal Rachdi, nachdem er im Januar 2021 von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen wurde.
In Kolumbien setzten Sicherheitskräfte den Granatwerfer «Venom» gegen Protestierende ein, der ursprünglich für das US Marine Corps entwickelt wurde. Mit diesem wurden aus 30 Rohren Salven von Tränengasgranaten auf Protestierende abgefeuert.