Vier Wochen vor dem Anpfiff der Fussball-WM der Männer fordert Amnesty International die FIFA und Katar erneut auf, einen Entschädigungsfonds für Arbeitsmigrant*innen einzurichten, deren Menschenrechte im Rahmen der Vorbereitungen für die Fussball-WM verletzt wurden. Nach einem weiteren Besuch vor Ort kommt Amnesty International einen Monat vor Anpfiff der WM zum Schluss, dass die angekündigten Reformen nicht vollendet wurden und es weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen an Arbeitsmigrant*innen kommt.
Die Überarbeitung des katarischen Arbeitssystems hat seit 2017 zu einigen merklichen Verbesserungen für die zwei Millionen Arbeitsmigrant*innen geführt. Hunderttausende von ihnen arbeiten in Projekten, die integraler Bestandteil der Vorbereitungen für die Fussball-WM sind. Die Reformen werden jedoch nur mangelhaft und ineffizient umgesetzt. Tausende Arbeitsmigrant*innen stehen weiterhin vor dem Problem, dass ihre Löhne verspätet oder gar nicht bezahlt werden, ihre Ruhetage gestrichen und ein Jobwechsel verunmöglicht wird. Sie haben kaum Möglichkeiten, sich gegen diese Verstösse rechtlich zu wehren. Zudem bleiben die Todesfälle von tausenden Arbeitsmigrant*innen ungeklärt.
«Tausende Arbeitsmigrant*innen werden wegen Schlupflöchern in der Gesetzgebung und unzureichender Umsetzung der Reformen noch immer ausgebeutet.» Lisa Salza, Verantwortliche für Sport und Menschenrechte bei Amnesty International Schweiz
«Obwohl Katar in den vergangenen fünf Jahren wichtige Schritte in Richtung einer Verbesserung der Rechte der Arbeitsmigrant*innen gemacht hat, reichen die bisherigen Reformen nicht. Tausende Arbeitsmigrant*innen werden wegen Schlupflöchern in der Gesetzgebung und unzureichender Umsetzung der Reformen noch immer ausgebeutet», sagt Lisa Salza, Verantwortliche für Sport und Menschenrechte bei Amnesty International Schweiz.
Amnesty International fordert die katarischen Behörden eindringlich auf, den Schutz und die Rechte von Arbeitsmigrant*innen zu verbessern, faire Löhne für die geleistete Arbeit zu zahlen und den Zugang zur Justiz und zu Entschädigungen zu ermöglichen.
«Trotz der grossen Unterstützung von Fans, Fussballvereinen und Sponsor*innen für die Entschädigung von Arbeitsmigrant*innen, haben weder Katar noch die FIFA sich bisher klar dazu bekannt. In einem Monat beginnt die WM. Katar und die FIFA müssen dringend handeln», sagt Lisa Salza.
Unzureichende Reformen
Der Bericht «Unfinished business: What Qatar must do to fulfil promises on migrant workers’ rights» zeigt auf, dass Arbeitsmigrant*innen, die an Projekten mit und ohne WM-Bezug arbeiten, in Katar weiterhin Menschenrechtsverstösse und Ausbeutung erleiden. Arbeitsmigrant*innen bleibt es weiter versagt, Gewerkschaften zu gründen oder sich solchen anzuschliessen,.
Viele Arbeitsmigrant*innen arbeiten unter Bedingungen, die teilweise Zwangsarbeit gleichkommen.
Viele Arbeitsmigrant*innen − besonders Hauspersonal in Privathaushalten und Angestellte im privaten Sicherheitssektor − arbeiten unter Bedingungen, die teilweise Zwangsarbeit gleichkommen. Hausangestellte sind häufig zwischen 14 und 18 Stunden am Tag im Einsatz, ohne einen wöchentlichen Ruhetag. Zudem sind sie in den Privathaushalten von der Aussenwelt abgeschottet, was es ihnen noch schwieriger macht, bei Verstössen gegen ihre Rechte Hilfe zu holen. Privaten Sicherheitsmitarbeiter*innen hingegen wird wiederholt der Ruhetag gestrichen und sie sind gezwungen, unter Androhung von Strafe zu arbeiten. Zu den angedrohten Strafen zählen willkürliche Lohnkürzungen und die Beschlagnahmung des Reisepasses, obwohl solche Praktiken gegen das katarische Recht verstossen.
Tausende ungeklärte Todesfälle
Nach wie vor ungeklärt sind Tausende Todesfälle von Arbeitsmigrant*innen, die sich teils auf WM-Baustellen zugetragen haben. Studien zufolge sind Hunderte dieser Fälle zurückzuführen auf das Arbeiten in der sengenden Hitze Katars. Die neuen gesetzliche Bestimmungen zum Schutz vor Hitze stellen eine Verbesserung dar. Sie entsprechen aber weiterhin nicht internationalen Standards.
Obwohl unbestritten ist, dass die extremen klimatischen Bedingungen ein grosses Gesundheitsrisiko bei Arbeiten im Freien darstellen, haben die Behörden bislang wenig getan, um Todesfälle von Arbeitsmigrant*innen, die vor ihrem Tod stundenlang in extremer Hitze arbeiten mussten, zu untersuchen, die Todesursache zu bestätigen oder Entschädigungen an die Angehörigen zu zahlen.
Die Behörden haben bislang wenig getan, um Todesfälle von Arbeitsmigrant*innen, die vor ihrem Tod stundenlang in extremer Hitze arbeiten mussten, zu untersuchen,
Zwar wurden wichtige Änderungen am Kafala-System vorgenommen und die komplette Abhängigkeit der Arbeitsmigrant*innen von ihren Arbeitgeber*innen aufgehoben. Der Mehrheit der Arbeitsmigrant*innen ist es heute erlaubt, auch ohne Erlaubnis ihrer Arbeitgebenden das Land zu verlassen oder die Arbeitsstelle zu wechseln. Trotzdem besteht für Arbeitsmigrant*innen weiterhin die Gefahr, festgenommen oder des Landes verwiesen zu werden, falls ihr*e Arbeitgeber*in das Visum storniert, die Aufenthaltsgenehmigung nicht erneuert oder sie bei den Behörden wegen «unerlaubten Verlassens des Arbeitsplatzes» anzeigt.
Die katarische Regierung meldet, sie habe seit Oktober 2020 über 300'000 Anträge auf Jobwechsel von Arbeitsmigrant*innen bewilligt. Amnesty International hat jedoch mehrere Fälle aus den letzten Monaten dokumentiert, in denen Arbeitgeber*innen ihre Machtposition über das Stornieren von Visa, die Erneuerung von Aufenthaltsgenehmigungen und das Anzeigen wegen «unerlaubten Verlassens des Arbeitsplatzes» ausgenutzt haben, um diejenigen auszubeuten und zu bestrafen, die sich über die Arbeitsbedingungen beschwerten oder die ihren Job wechseln wollten.
Hintergrundinformationen
Teil der seit 2017 durchgeführten Reformen in Katar sind ein Gesetz zur Regulierung der Arbeitsbedingungen von Hausangestellten, ein Fonds zur Entschädigung bei Lohndiebstahl sowie die Einführung eines Mindestlohns. Katar hat ausserdem zwei wichtige Menschrechtsverträge ratifiziert, allerdings ohne das Recht der Arbeitsmigrant*innen anzuerkennen, sich einer Gewerkschaft anschliessen zu dürfen. Die für die Planung und Durchführung der Weltmeisterschaft zuständige katarische Behörde, das Supreme Committee for Delivery and Legacy, hat ebenfalls verbesserte Arbeitsstandards eingeführt. Allerdings gelten diese nur auf WM-Schauplätzen wie Stadien und betreffen nur einen kleinen Anteil der insgesamt an WM-Projekten beteiligten Arbeiter*innen. Sie erfassen nur 2% der gesamten Arbeitsbevölkerung Katars, die überwiegend aus Arbeitsmigrant*innen besteht.
Amnesty erkennt die Wichtigkeit dieser Reformen an, stellt mit der vorliegenden Untersuchung jedoch einen Aktionsplan vor, um anhaltende Missstände in zehn Bereichen anzugehen.
Im vergangenen Monat zeigte eine durch Amnesty International in Auftrag gegebene internationale Umfrage eine grosse Zustimmung unter den Befragten und Fussballfans für die Zahlung von Entschädigungen an Arbeitsmigrant*innen, die im Vorlauf der WM 2022 Menschenrechtsverletzungen erlitten haben. Die Ergebnisse der Umfrage unterstützen die #PayUpFIFA-Kampagne, die im Mai von einem Zusammenschluss aus Menschenrechtsorganisationen – darunter Amnesty International –, Fangruppen und Gewerkschaften ins Leben gerufen wurde und in der die FIFA und die katarischen Behörden aufgefordert werden, einen Fonds zur Entschädigung der Arbeiter*innen einzurichten und künftige Menschenrechtsverstösse zu verhindern.
Bis jetzt unterstützen mindestens sieben nationale Fussballverbände die Forderung von Amnesty International nach einem Entschädigungsfonds für Arbeitsmigrant*innen in Katar, namentlich die nationalen Fussballverbände aus Belgien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, den USA, aus Wales und aus England. Bisher fehlt eine klares, schriftliches Bekenntnis des Schweizerischen Fussballverbandes.