Viele Regierungen haben im vergangenen Jahr internationales Recht gebrochen und untergraben bewusst den institutionellen Menschenrechtsschutz: So lautet eine zentrale Schlussfolgerung des Amnesty International Report 2015-2016.
«Nicht nur unsere Rechte sind unter Druck, sondern auch Gesetze und Systeme, die die Menschenrechte schützen und für jede und jeden von uns gewährleisten sollten», warnte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty anlässlich der Lancierung des Reports in London. «Während Millionen von Menschen unter der Gewalt von Staaten und von nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen masslos leiden, diffamieren Regierungen den Menschenrechtsschutz skrupellos als Bedrohung für Sicherheit, Ruhe und Ordnung oder für so genannte 'nationale Werte'».
Verbreitete innerstaatliche Menschenrechtsverletzungen
In mindestens 122 Staaten wurden Menschen im vergangenen Jahr gefoltert oder anderswie misshandelt. Mindestens 30 Staaten brachen Völkerrecht, indem sie Flüchtlinge in Länder zurückschickten, wo sie an Leib und Leben gefährdet waren. In mindestens 19 Ländern begingen die Regierungen und/oder bewaffnete Gruppen Kriegsverbrechen oder andere Verletzungen des humanitären Völkerrechts.
Zu denken gibt auch die Tatsache, dass Aktivisten, Rechtsanwältinnen und andere Menschenrechtsverteidiger in vielen Staaten zunehmend unterdrückt und attackiert werden. «Statt die wichtige Rolle anzuerkennen, die solch engagierte Menschen in der Gesellschaft spielen, nehmen viele Regierungen genau diese kritischen Stimmen ins Visier und unterdrücken sie auf jede erdenkliche Weise», so Salil Shetty.
Einen Grund dafür sieht Amnesty International in der verfehlten Reaktion vieler Regierungen auf die sich verschärfende Sicherheitslage im Jahr 2015. «Die Zerschlagung der Zivilgesellschaft und Einschränkungen des Rechts auf Privatleben und der Redefreiheit sind völlig verfehlte Reaktionen auf zunehmende Sicherheitsrisiken», ist Shetty überzeugt. «Genauso falsch ist der Versuch, einen Gegensatz zwischen nationaler Sicherheit und Menschenrechten zu konstruieren und letztere in den Dreck zu ziehen. Manche Regierungen haben damit auch ihr eigenes Recht gebrochen.»
Kapitel zur Schweiz: Menschenrechte auch hier unter Druck
Zu den 160 Ländern, über deren Menschenrechtslage im Amnesty International Report 2015-2016 berichtet wird, gehört auch die Schweiz. Kritisiert wird bezüglich unseres Landes unter anderem das menschenrechtsfeindliche Klima, das mittels Volksinitiativen geschürt werde. «Die Schweiz ist leider von der globalen Tendenz zur Diffamierung des internationalen Menschenrechtsschutzes nicht ausgenommen», kommentiert Manon Schick, Geschäftsleiterin der Schweizer Sektion von Amnesty International. «Volksinitiativen wie ‚Schweizer Recht statt fremde Richter‘ oder die ‚Durchsetzungsinitiative‘, über die wir in vier Tagen abstimmen, zielen darauf ab, internationale Institutionen und Mechanismen zu untergraben und mit der Berufung auf Sicherheit und ‚nationale Werte‘ die Schweiz aus Systemen herauszulösen, die zu unser aller Schutz geschaffen worden sind. Errungenschaften, die sich die internationale Gemeinschaft in mehr als siebzig Jahren mühsam erkämpft hat, werden damit infrage gestellt.»
Zu den menschenrechtsrelevanten Entwicklungen in der Schweiz, die im Amnesty International Report 2015-2016 thematisiert werden, gehören ausserdem
- das weitreichende neue Überwachungsgesetz, welches das Recht auf Privatsphäre tangiert;
- die unverhältnismässige Gewaltanwendung durch Polizeibeamte, namentlich bei Abschiebungen von Asylsuchenden, und die Schwäche der diesbezüglich geltenden Rechenschaftsmechanismen für Polizeibeamte;
- der teilweise unzureichende Schutz für Opfer von Menschenhandel sowie für ausländische Opfer von häuslicher Gewalt;
- die fehlende Verankerung der Folter als Tatbestand im Schweizer Strafgesetzbuch.
Uno muss dringend wieder gestärkt werden
Die Vereinten Nationen und ihre Institutionen litten beträchtlich unter der feindseligen Haltung von Regierungen und vermochten die ihnen zugedachte Rolle nicht wahrzunehmen. Der katastrophale Konflikt in Syrien ebenso wie die Flüchtlingskrise sind für Amnesty International Ausdruck dieses Scheiterns.
«Die Uno wurde ins Leben gerufen, um ‚künftige Generationen vor der Geissel des Krieges zu bewahren‘ und ‚den Glauben an grundlegende Menschenrechte zu stärken‘», erinnerte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty anlässlich der Lancierung des Reports: «Doch sie ist angesichts riesiger Herausforderungen schwächer als je zuvor.»
Manche Regierungen haben im vergangenen Jahr ein Eingreifen der Uno willentlich vereitelt, etwa wenn es darum ging, Massengräuel zu verhindern oder die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Auch gab es Regierungen, die Empfehlungen der Uno zur Verbesserung der nationalen Menschenrechtslage schlicht zurückwiesen oder gar öffentlich mit Häme überschütteten.
Noch dieses Jahr steht die Wahl der künftigen Uno-Generalsekretärin oder des künftigen Generalsekretärs an. Anfang 2017 wird sie oder er das Amt antreten und eine Organisation übernehmen, die viel erreicht hat, jedoch unbedingt wieder gestärkt werden muss. Amnesty International fordert die Uno-Mitgliedstaaten und den Uno-Sicherheitsrat in diesem Zusammenhang dringend auf, mit Blick auf künftige Reformen Mut und Weitsicht an den Tag zu legen, angefangen beim Wahlprozess für die Nachfolge von Ban Ki Moon.