«Das Jahr 2021 hätte ein Jahr der Einigkeit und Stärkung sein sollen. Stattdessen brachte es noch grössere Ungleichheit und Instabilität hervor – ein auf Jahre hinaus toxisches Erbe», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, zur Veröffentlichung des Amnesty International Report 2021/22.
«Die fehlende Umsetzung einer internationalen Strategie zur Pandemiebekämpfung bereitete den Boden für weitere Konflikte und weiteres Unrecht» Agnès CallamardGeneralsekretärin von Amnesty International
Reiche Länder wie die USA, die EU-Staaten oder die Schweiz horteten mehr Impfdosen als benötigt und duldeten, dass die grossen Pharmakonzerne den Technologieaustausch blockierten und so einen gerechten Zugang zu Impfstoffen für ärmere Staaten verhinderten.
Viele Länder des Globalen Südens litten zusätzlich unter dem Zerfall ihrer Gesundheitssysteme und dem Wegfall von wirtschaftlicher Unterstützung und Sozialleistungen infolge jahrzehntelanger Unterfinanzierung. Auf keinem Kontinent war dies deutlicher zu spüren als in Afrika, weshalb Amnesty International den Jahresbericht am 28. März in Südafrika vorstellt.
«Die fehlende Umsetzung einer internationalen Strategie zur Pandemiebekämpfung bereitete den Boden für weitere Konflikte und weiteres Unrecht», so Agnès Callamard. Steigende Armutszahlen, Ernährungsunsicherheit und die staatliche Instrumentalisierung der Pandemie zur Unterdrückung von Protesten und kritischen Stimmen – all dies untergrub 2021 die Menschenrechte.
Konflikte gedeihen im gefährlichen internationalen Handlungsvakuum
Afghanistan, Burkina Faso, Äthiopien, Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete, Libyen, Myanmar und Jemen wurden 2021 von neuen Konflikten heimgesucht bzw. von bestehenden Konflikten gebeutelt. Die Konfliktparteien verletzten dabei das humanitäre Völkerrecht und internationale Menschenrechtsnormen. Angriffe auf die Zivilbevölkerung wurden billigend in Kauf genommen – Millionen Menschen wurden vertrieben, Tausende getötet, Hunderte sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Bereits angeschlagene Gesundheits- und Wirtschaftssysteme wurden weiter ausgehöhlt.
Das Unvermögen, diese Konflikte gemeinsam auf globaler Ebene zu bewältigen, führte zu noch grösserer Instabilität und Verwüstung. Am deutlichsten zeigte sich die Fruchtlosigkeit der internationalen Krisenbewältigungsversuche an der Lähmung des Uno-Sicherheitsrats, der weder auf Menschenrechtsverletzungen in Myanmar und Afghanistan noch auf Kriegsverbrechen in Syrien zu reagieren vermochte. Diese beschämende Tatenlosigkeit, die anhaltende Lähmung multilateraler Gremien und die fehlende Rechenschaft für mächtige Staaten trugen dazu bei, Russland den Weg für den völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine zu ebnen.
«Weil eine internationale Reaktion oft fehlte oder zu spät erfolgte, konnten sich Konflikte stetig ausbreiten. Immer mehr und immer unterschiedlichere Parteien beteiligten sich. Die globale Stabilität wurde an den Rand des Zusammenbruchs getrieben», sagte Agnès Callamard.
Nie waren unabhängige Stimmen so wichtig – und so unterdrückt
Die weltweite Tendenz zur Unterdrückung unabhängiger und kritischer Stimmen nahm 2021 weiter zu. Menschenrechtler*innen, NGO-Angehörige, Medienschaffende und Oppositionelle wurden – häufig unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung – zum Ziel von rechtswidriger Inhaftierung, Folter und Verschwindenlassen. In mindestens 67 Ländern wurden 2021 neue Gesetze eingeführt, um die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken.
In zahlreichen Staaten Europas und Zentralasiens wurden Aktivist*innen, die sich für Migrant*innen, Frauen- oder LGBTI*-Rechte einsetzten, kriminalisiert oder Verleumdungskampagnen ausgesetzt. Willkürliche Einschränkungen der Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen gaben in Ungarn, Griechenland und der Türkei sowie in Russland und Belarus Anlass zur Sorge. Mehrere Länder – darunter Aserbaidschan, Ungarn, Kasachstan und Polen – setzten NSO-Spionageprogramme ein, um Menschenrechtsverteidiger*innen und Oppositionelle ins Visier zu nehmen.
Die digitale Überwachung wurde in zahlreichen Ländern weiter ausgebaut. In Russland griff die Regierung auf automatische Gesichtserkennung zurück, um friedliche Protestierende massenhaft festzunehmen. In China setzen die Behörden eine umfassende Internetzensur durch, um jegliche Kritik an der Politik in Xinjiang oder in Hongkong zu unterdrücken.
Der freundliche Empfang von Ukrainer*innen in den meisten europäischen Ländern steht in krassem Gegensatz zum allgemeinen Trend in der europäischen Migrations- und Asylpolitik im Jahr 2021. Die Verstärkung der EU-Aussengrenzen schritt rasch voran, und viele Länder griffen zu rechtswidrigen Pushbacks, um Menschen von einer Flucht nach Europa abzuschrecken. Griechenland erklärte die Türkei zu einem sicheren Land für viele Schutzsuchende. Dänemark versuchte, Aufenthaltsgenehmigungen für Syrer*innen aufzuheben. Mehrere Länder schickten afghanische Asylbewerber*innen bis kurz vor der Machtübernahme durch die Taliban nach Afghanistan zurück.
Widerstand von sozialen Bewegungen
Menschen gingen in verschiedenen Ländern der Welt auf die Strasse, um gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu demonstrieren, so in Indien, Kolumbien oder Russland. Auf der ganzen Welt prangerten jugendliche und indigene Aktivist*innen die Tatenlosigkeit ihrer Regierungen bei der Bekämpfung der Klimakrise an. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie Amnesty International setzten sich erfolgreich für die Anerkennung des Rechts auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt ein.
Fortschritte für die Menschenrechte in der Schweiz
In der Schweiz formierte sich eine breite Koalition von Betroffenen, Organisationen und Persönlichkeiten für ein zeitgemässes Sexualstrafrecht, das auf dem Prinzip der Zustimmung basiert. Die Gesetzesvorlage wurde dadurch massgeblich beeinflusst. «Wir erleben eine nie dagewesene Mobilisierung für ein Gesetz, dass Betroffene besser vor sexualisierter Gewalt schützen soll», sagte Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz.
«Auch beim Schutz der Rechte von LGBTI* gab es wichtige Fortschritte: Eine grosse Mehrheit der Bevölkerung stimmte in einer historischen Volksabstimmung der ‘Ehe für alle’ zu. Ein Meilenstein für die Menschenrechte in der Schweiz ist zudem die vom Parlament verabschiedete Schaffung einer nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI).»
Recherchen von Amnesty International deckten Übergriffe von privatem Sicherheitspersonal auf Menschen in Bundesasylzentren auf und dokumentierten strukturelle Mängel in der Verwaltung der Zentren. «Unsere Kritik an der Behandlung von Asylsuchenden hat den Schwächsten eine Stimme gegeben. Wichtige Änderungen wurden seither von den Behörden angestossen, die nachhaltige Verbesserungen für Schutzsuchende zur Folge haben können», sagte Alexandra Karle.