«Der Amnesty Report zeichnet ein düsteres Bild. Die Unterdrückung der Menschenrechte und die grossflächige Verletzung des Völkerrechts sind alarmierend, insbesondere angesichts zunehmender globaler Ungleichheit, dem Ringen der Supermächte um eine Vormachtstellung in der Welt und der eskalierenden Klimakrise», sagte die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard.
Mehr zum Amnesty International Report 2023/2024
Neue und bereits existierende Technologien werden dank mangelnder Regulierung routinemässig von militärischen, politischen und privatwirtschaftlichen Akteur*innen instrumentalisiert und tragen so zu Rechtlosigkeit, Diskriminierung und Straflosigkeit bei. Die Plattformen der Tech-Gigant*innen schüren Konflikte. Mit Spionagesoftware und Massenüberwachungsinstrumenten werden Grundrechte und -freiheiten verletzt; insbesondere von bereits marginalisierten Gruppen.
«In einer zunehmend unsicheren Welt wird die unregulierte Verbreitung und Nutzung von Technologien wie generativer KI, Gesichtserkennung und Spionagesoftware zu einem bösartigen Feind, der Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte massiv ausweitet und verstärkt», sagte Agnès Callamard. «Unkontrollierte und unregulierte Technologien stellen eine enorme Gefahr für uns alle dar – gerade in einem wichtigen Wahljahr wie diesem. Sie können instrumentalisiert werden, um zu diskriminieren, zu desinformieren und zu spalten.»
Zivilbevölkerung im Fadenkreuz
Der Bericht von Amnesty International zieht eine schonungslose Bilanz des Verrats an den Menschenrechtsprinzipien durch politischen Entscheidungsträger*innen und Institutionen. Angesichts der sich häufenden Konflikte haben viele mächtige Staaten durch ihr Vorgehen die Glaubwürdigkeit des Multilateralismus weiter beschädigt und die 1945 erstmals geschaffene regelbasierte internationale Ordnung untergraben.
Das Jahr 2023 war geprägt vom neu eskalierten Nahostkonflikt, in dem sich die Belege für Kriegsverbrechen aneinanderreihen und die israelische Regierung im besetzten Gazastreifen das Völkerrecht zur Farce macht. Nach dem furchtbaren Angriff durch die Hamas und andere bewaffnete Gruppen am 7. Oktober 2023 reagierten die israelischen Behörden mit unerbittlichen Luftangriffen auf bewohnte zivile Gebiete, die oft ganze Familien auslöschten und fast 1,9 Mio. Palästinenser*innen zur Flucht zwangen. Ausserdem schränkte Israel trotz der zunehmenden Hungersnot im Gazastreifen den Zugang zu dringend benötigter humanitärer Hilfe ein.
«Was wir im Jahr 2023 gesehen haben, bestätigt, dass viele mächtige Staaten den Grundprinzipien der Menschlichkeit und Universalität, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind, den Rücken kehren.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
«Die Tatsache, dass es der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen ist, im Gazastreifen Tausende Zivilpersonen – darunter erschreckend viele Kinder – vor dem Tod zu bewahren, macht deutlich, dass die Institutionen, die zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Wahrung der Menschenrechte geschaffen wurden, ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Was wir im Jahr 2023 gesehen haben, bestätigt, dass viele mächtige Staaten den Grundprinzipien der Menschlichkeit und Universalität, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert sind, den Rücken kehren», sagte Agnès Callamard.
Auch die eklatanten Verstösse der russischen Streitkräfte bei ihrer anhaltenden Invasion der Ukraine werden in dem Bericht beleuchtet. Der Amnesty Report dokumentiert wahllose Angriffe auf dicht besiedelte zivile Gebiete, die Energieinfrastruktur und den Getreideexport. Ebenfalls aufgezeigt wird der Einsatz von Folter und anderen Misshandlungen gegen Kriegsgefangene.
Myanmars Militär und die mit ihm verbundenen Milizen führten ebenfalls Angriffe auf Zivilpersonen durch, bei denen allein im Jahr 2023 über 1000 Menschen ums Leben kamen. Weder die russische noch die myanmarische Regierung haben sich verpflichtet, die Berichte über Menschenrechtsverstösse zu untersuchen. Beide erhielten finanzielle und militärische Unterstützung aus China.
Im Sudan zeigen sich beide Konfliktparteien, die sudanesischen Streitkräfte und die paramilitärischen Einheiten der Rapid Support Forces (RSF), wenig beeindruckt von den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts. Sie verübten im Jahr 2023 gezielte und wahllose Angriffe, bei denen zahlreiche Zivilpersonen verletzt und getötet wurden. Angehörige der Streitkräfte und der RSF feuerten explosive Waffen mit flächendeckender Wirkung auf dichtbesiedelte zivile Wohngebiete ab, wodurch 12’000 Menschen getötet wurden. In der Folge gibt es im Sudan heute mehr als 8 Mio. Binnenvertriebene, so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht, und die seit Monaten hungerleidende Bevölkerung steht kurz vor einer Hungersnot.
«Angesichts der düsteren globalen Lage sind dringende Massnahmen zur Wiederbelebung und Erneuerung der internationalen Institutionen erforderlich. Es müssen Schritte unternommen werden, um den Uno-Sicherheitsrat zu reformieren, damit die ständigen Mitglieder ihr Vetorecht nicht unkontrolliert ausüben können, etwa um den Schutz von Zivilpersonen zu verhindern und ihre geopolitischen Allianzen zu festigen.»
Gefährliche Technologien schüren Hass und Diskriminierung
Der Amnesty Report stellt fest, dass Angriffe auf Frauen, LGBTI* und ausgegrenzte Gemeinschaften in vielen Teilen der Welt zugenommen haben. Neue und bestehende Technologien werden zunehmend zur Repression herangezogen, sei es zur Verbreitung von Desinformationen oder um Gemeinschaften gegeneinander auszuspielen und Minderheiten anzugreifen.
Der Bericht weist auch darauf hin, dass Technologien im grossen Stil dazu eingesetzt werden, diskriminierende Massnahmen zu verankern. Staaten wie Argentinien, Brasilien, Indien, die USA und Grossbritannien setzen zunehmend auf Gesichtserkennung, um öffentliche Proteste und Sportveranstaltungen zu überwachen und auf diskriminierende Weise gegen Randgruppen – insbesondere Migrant*innen und Flüchtlinge – vorzugehen. So räumte beispielsweise die New Yorker Polizei im Jahr 2023 als Reaktion auf eine Klage von Amnesty International ein, dass sie zur Überwachung von Black-Lives-Matter-Protesten Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt hatte.
Der Einsatz von Gesichtserkennungstechnik war nirgendwo so ruchlos wie im Westjordanland, wo sie von Israel eingesetzt wurde, um die Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen einzuschränken und das Apartheidsystem aufrechtzuerhalten.
In Serbien führte die Einführung eines automatisierten Systems für die Vergabe von Sozialleistungen dazu, dass Tausende Menschen den Zugang zu lebenswichtiger Sozialhilfe verloren. Dies betraf insbesondere Rom*nja und Menschen mit Behinderungen und zeigt auf, wie automatisierte Systeme soziale Ungleichheiten verschärfen können.
Weltweit waren Millionen Menschen auf der Flucht vor Konflikten. Zur Durchsetzung von Migrationspolitik und Grenzkontrollen wurden vielerorts Technologien eingesetzt, die grosse Risiken für die Menschenrechte bargen, wie z. B. digitale Alternativen zur Inhaftierung, Anwendungen zur Überwachung der Grenzen, Software zur Datenanalyse, Biometrie-Tools und algorithmische Entscheidungssysteme. Diese allgegenwärtigen Technologien leisten Diskriminierung, Rassismus und der unverhältnismässigen und rechtswidrigen Überwachung rassifizierter Menschen Vorschub.
Gleichzeitig blieb Spionagesoftware – die in der Regel gegen Aktivist*innen im Exil, Journalist*innen und Menschenrechtsverteider*innen eingesetzt wurde – weitgehend unreguliert, obwohl es seit langem Beweise für die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen gibt. Im Jahr 2023 dokumentierte Amnesty International den Einsatz der Spionagesoftware Pegasus gegen Journalist*innen und zivilgesellschaftlich engagierte Personen in Armenien, Indien, Serbien und der Dominikanischen Republik. Gleichzeitig wurde Spionagesoftware aus der EU weitgehend ungehindert in die ganze Welt verkauft.
«Während es viele Staats- und Regierungschef*innen nicht als ihre Aufgabe sahen, für die Menschenrechte einzutreten, erlebten wir, wie die Menschen sich zu Protesten und für eine hoffnungsvollere Zukunft zusammenschlossen.» Agnès Callamard
Menschen fordern weltweit Rechte ein
«Während es viele Staats- und Regierungschef*innen nicht als ihre Aufgabe sahen, für die Menschenrechte einzutreten, erlebten wir, wie die Menschen sich zu Protesten und für eine hoffnungsvollere Zukunft zusammenschlossen», sagte Agnès Callamard.
Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas führte auf der ganzen Welt zu Hunderten Protestkundgebungen. Lange bevor sich Regierungen zu ähnlichen Forderungen bekannten, forderten Menschen vielerorts einen Waffenstillstand, um das unvorstellbare Leid der Palästinenser*innen im Gazastreifen zu beenden, sowie die Freilassung der Geiseln durch die Hamas und andere bewaffnete Gruppen.
In den USA, El Salvador und Polen ging die Bevölkerung auf die Strasse, um sich den Angriffen auf die Geschlechtergerechtigkeit entgegenzustellen und ihr Recht auf Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch einzufordern. Weltweit schlossen sich Tausende der Jugendbewegung Fridays For Future an, um einen fairen und schnellen Ausstieg aus fossilen Energieträgern zu fordern.
Kritik an der Schweiz wegen Einschränkung des Demonstrationsrechts
Das Recht auf Protest, das von entscheidender Bedeutung ist, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, wird weltweit auf vielfältige Weise verletzt, auch in der Schweiz.
Kritik übt Amnesty International im Länderkapitel zur Schweiz an der generellen Bewilligungspflicht für öffentliche Kundgebungen und der Überwälzung ausserordentlicher Polizeikosten auf Demonstrierende in mehreren Schweizer Kantonen. Unbewilligte friedliche Demonstrationen wurden gewaltsam aufgelöst, unter anderem in Basel und Genf. Nach der Eskalation des Nahostkonflikts wurden zudem in mehreren Städten der Deutschschweiz vorübergehende Demonstrationsverbote verhängt.