«Um fünf Uhr morgens aufstehen. Dann ins Haus des Herrn, um das Frühstück für dessen Familie zuzubereiten. Danach trieb mein Vater die Herde aufs Feld. Meine Mutter kümmerte sich um ihre Kinder wie auch um die des Herrn. Bis 19 Uhr, wenn die Männer von den Feldern zurückkehrten. Danach machten meine Eltern das Abendessen, brachten die Kinder des Herrn ins Bett und bereiteten die Betten für die Nacht vor. Um 23 Uhr war der Arbeitstag zu Ende und sie kamen ins Township zurück, in dem wir lebten. Meine Eltern hatten täglich weniger als sechs Stunden für sich selbst.»
Khali Ould Maouloud ist Mauretanier. Er wurde als Sklave geboren, weil seine Eltern Sklaven waren. Seine Eltern gehören zur Ethnie der Haratines. Aus dieser Volksgruppe stammen alle Sklavinnen und Sklaven in Mauretanien. Anders als die meisten Sklavenkinder hatte Khali Ould Maouloud aber die Möglichkeit, in die Schule zu gehen. Der heute 35-jährige Krankenpfleger lebt in Genf und ist zu Besuch in Bern. Er ist etwas nervös, da er ein Treffen mit dem Aussendepartement EDA hat, um über die Sklaverei in Mauretanien zu berichten. Seit etwas mehr als drei Jahren ist Khali Ould Maouloud Mitglied bei der «Initiative pour la résurgence du mouvement abolitionniste (IRA)». Diese Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei in Mauretanien wurde vor 12 Jahren von Biram Ould Abeïd gegründet, ebenfalls ein ehemaliger Sklave. Biram Ould Abeïd erhielt 2014 den Menschenrechtspreis der Uno und hätte nun an der Seite von Maouloud nach Bern kommen sollen. Aber zwei Wochen vor dem Treffen beim EDA wurde der Menschenrechtspreisträger zusammen mit anderen verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, weil er an einem friedlichen Sit-in teilgenommen hatte.
Eine halbe Million Sklaven
Es gibt keine verlässlichen Zahlen, wie viele Menschen in dem Land in Sklaverei leben.
«In Mauretanien liegt die gesamte Macht in den Händen von arabisch-stämmigen Berbern, die gerade einmal zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachen», sagt Khali Ould Maouloud. «Die restlichen achtzig Prozent sind Schwarzafrikaner, von denen die Hälfte zur Ethnie der Haratines gehört. Etwa ein Drittel dieser Haratines ist frei, der Rest dient den arabisch-berberischen Herren und Herrinnen.» Es gibt keine verlässlichen Zahlen, wie viele Menschen in dem Land in Sklaverei leben. Die IRA schätzt, dass zwischen zehn und zwanzig Prozent der 3,8 Millionen MauretanierInnen Sklavinnen und Sklaven sind. «Man kann gut von einer halben Million Sklaven sprechen, es sind wohl eher mehr.»
Je nachdem, wie Sklaverei und andere Formen der Zwangsarbeit definiert werden, können die Zahlen zur Sklaverei in Mauretanien jedoch variieren; so geht die Organisation «Walk Free» von weit niedrigeren Zahlen aus, nämlich 4 Prozent im Jahr 2014.
Die Sklaverei ist in Mauretanien seit 1981 offiziell verboten, wird jedoch erst seit 2007 strafrechtlich verfolgt. «Auf dem Papier zumindest», so Khali Ould Maouloud. «In sieben Jahren kam es nur zu einer einzigen Verurteilung – auf Bewährung. Der angeklagte Herr konnte das Gericht als freier Mann verlassen.» Verschiedene Nichtregierungsorganisationen werfen dem mauretanischen Staat vor, diese Gesetze nur erlassen zu haben, um den westlichen Staaten zu gefallen. General Mohammed Ould Abdel Aziz, der 2008 durch einen Staatsstreich Präsident der Republik wurde, bemüht sich um ein respektables Image und unterdrückt hierzu alle missliebigen Stimmen.
Zum Beispiel haben Aktivisten und Aktivistinnen, die sich gegen Sklaverei engagieren, keinen Zugang zu den nationalen Medien, die alle in den Händen der Regierung sind. «Es hat Veränderungen gegeben, doch die sind Fassade. So gibt es seit etwa 15 Jahren keine Sklavenmärkte mehr, auf denen Männer, Frauen und Kinder zum Verkauf angeboten werden. » Heute werden die Transaktionen im Privaten, zwischen den Herrschenden, gemacht. «Damit war der Staat fein raus, als der Menschenrechtsrat, in dem Mauretanien sitzt, 2009 genauer hinschaute: Man konnte sagen, man habe von nichts gewusst.»
Fest verankerte Tradition
Nicht nur das Justizsystem stütze die Sklaverei, erklärt Khali Ould Maouloud. «Die Sklaverei ist tief in der Mentalität der Mauretanier und Mauretanierinnen verankert, sowohl bei den Herrschenden als auch bei Sklavinnen und Sklaven. Sie dauert nicht nur an, weil die Herrschenden ansonsten auf den Komfort von Dienenden verzichten müssten, sondern auch, weil die Sklavinnen und Sklaven nicht die Ausbildung haben, um das System in Frage zu stellen.» Sklaven, Sklavinnen und ihre Kinder gelten so viel wie Grundeigentum oder Lasttiere. «Sie haben keine Identitätspapiere, kein Recht auf eigene Unterkunft. Sie können wie irgendein Gegenstand verkauft werden. Dies gilt insbesondere für Frauen und Mädchen, die häufig von ihren Besitzern als Sexsklavinnen angeboten werden. Kinder, die aus diesen Vergewaltigungen entspringen, werden nicht anerkannt. Sie vergrössern einfach die ‹Herde› des Herrn.»
«Die Sklaverei sei mit dem Koran vereinbar, erklärt man uns die ganze Zeit.»
Einige Imame würden dem System noch einen religiösen Anstrich geben, so Khali Ould Maouloud. «Die Sklaverei sei mit dem Koran vereinbar, erklärt man uns die ganze Zeit. Warum also riskieren, sich gegen ein gottgewolltes System aufzulehnen?» In letzter Zeit habe sich dies noch verschlimmert: In Predigten werde gegen die Anti-Sklaverei-AktivistInnen gehetzt, indem man sie mit «den Zionisten» oder «den Amerikanern» in Verbindung bringe.
Die Last der Vergangenheit
Sklavinnen und Sklaven, die sich selbst aus diesem Joch befreien möchten, sind von der Gnade des Herrn abhängig oder müssten sich an das Gericht oder religiöse Institutionen wenden. «Selbst wenn sie dies schaffen, müssen sie sich danach erst einen Platz in der Gesellschaft erkämpfen: Sie haben keine Papiere, ja selbst ihr Name verrät ihre Herkunft als Sklavin oder Sklave.» Khali Ould Maouloud gelang es, aus dem System auszubrechen. «Mein Vater akzeptierte es nicht mehr, für den Herrn zu arbeiten. Mein Bruder und ich hatten beschlossen, unsere Familie zu befreien. Ich war damals 16, mein Bruder 20. Wir verliessen das Dorf, in dem unser Herr lebte, und liessen uns 60 Kilometer entfernt nieder. Mein Bruder fand Arbeit, mit der er uns durchbrachte.» Natürlich habe der Herr versucht, sie zurückzuholen, doch ohne Erfolg. Er habe zwar keine Gewalt angewandt, jedoch regelmässig Notabeln vorbeigeschickt, die sie zur «Vernunft» bringen sollten. «Selbst in Freiheit tragen die ehemaligen Sklaven und Sklavinnen die Last ihrer Vergangenheit. So musste meine Schwester auch zwei Jahre später noch zu unserem ehemaligen Herrn gehen und ihn bitten, das Dokument zu unterschreiben, das bestätigte, dass sie frei ist. Ansonsten hätte sie niemals heiraten können.»
Khali Ould Maouloud blickt sowohl kritisch als auch wohlwollend auf die Traditionen seines Heimatlandes. «Ich will, dass die Sklaverei abgeschafft wird. Aber ich will keine Revolution, in deren Verlauf Köpfe aufgespiesst werden.» Er ist mit den Kindern seines Herrn aufgewachsen. Sie sind seine Freunde geworden. Wenn er von ihnen spricht, wird seine Stimme weich. Es gehe ihm darum, ein Blutbad zu verhindern – ein Blutbad, zu welchem es unweigerlich kommen würde, überliesse man den Widerstand der Strasse.
Von Jean-Marie Banderet
Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2015. Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion