Weltweiter Widerstand: Ensaf Haidar vor der saudischen Botschaft in Berlin. © Amnesty International
Weltweiter Widerstand: Ensaf Haidar vor der saudischen Botschaft in Berlin. © Amnesty International

MAGAZIN AMNESTY Saudi-Arabien: Ensaf Haidar Das Königshaus zaudert

Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom August 2015. Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion
50 Stockschläge erlitt er bereits, 950 sollen folgen: Der saudi-arabische Blogger Raif Badawi könnte jeden Freitag wieder öffentlich gefoltert werden. Seine Ehefrau Ensaf Haidar kämpft für seine Freilassung. Auch in Europa findet sie Verbündete.

Die Angst kommt immer schon donnerstags, aber das merkt man ihr heute früh kaum an. «Wie geht es Raif?», «Wie geht es Ihnen?», «Was machen die Kinder?». Ensaf Haidar lächelt und antwortet, als hätte sie die Fragen noch nie gehört. Als sie gestern auf dem Flughafen Berlin-Tegel landete, wartete in der Empfangshalle schon eine junge Reporterin der «Zeit» auf sie, nun spricht sie mit drei Journalisten gleichzeitig. Am Mittag steht ein Fotoshooting am Potsdamer Platz an, davor wird sie die «Deutsche Welle» treffen, sie ist heute mit ihrem deutschen Verleger verabredet, ZDF und «Bild» wollen mit ihr sprechen, und irgendwann muss sie ihre Rede proben, die sie am Abend in den Berliner Festspielen halten soll. Das Tamtam ist riesig an diesem Donnerstag. Aber wenn sie heute Nacht in ihr Hotelbett fällt, wird es wohl wie jeden Donnerstag sein. Sie wird nicht schlafen können, und am nächsten Morgen wird die Panik so gross sein, dass sie kaum aus dem Bett kommt.

Ensaf Haidar ist extrem höflich, hübsch und keine 1,60 Meter gross. Zwei Wochen reist die 35-Jährige durch Europa, damit das Schicksal ihres Mannes im Gedächtnis bleibt: Raif Badawi, 31, sitzt in einem saudischen Gefängnis, weil er im Internet über Frauenrechte, Säkularismus und Meinungsfreiheit nachdachte. «Beleidigung des Islam», nannten es die Richter. Das Urteil: 1000 Stockschläge und zehn Jahre Haft. Dazu weitere zehn Jahre Schreib- und Reiseverbot und eine Geldstrafe von mehr als 250 000 Franken. 50 Stockschläge gingen auf Raif Badawi schon nieder, 950 sollen folgen. Jeden Freitag könnte es wieder soweit sein. «Alle Tage sind schlimm», sagt Ensaf Haidar. Aber Donnerstage seien am schlimmsten.

Medienstar Badawi

Die internationale Anteilnahme ist enorm. «Raif Badawi ist der bekannteste Häftling der Welt», schreiben Zeitungen. Westliche Regierungschefs haben sich mit ihm solidarisiert wie mit kaum einem Gefangenen zuvor. Noam Chomsky, Desmond Tutu und Prinz Charles fordern seine Freilassung, Salman Rushdie und Ayaan Hirsi Ali auch, Bono sowieso. «Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie viele Interviews ich schon gegeben habe», sagt Ensaf Haidar und lacht. Es ist ein erschütterndes Lachen, das den ganzen Körper durchzuckt und ihre Anspannung wie ein Knall durchreisst.

Das Urteil gegen Badawi ist auch eine Warnung an die Jugend des Landes. Bestrafe einen, erziehe hundert!

Die enorme Aufmerksamkeit scheint die saudische Regierung zu irritieren. Seit dem 9. Januar wurde die Prügelstrafe, zumindest bis Redaktionsschluss, nicht mehr ausgeführt. Das Königshaus zaudert – zurückweichen will es nicht: Der oberste Gerichtshof hat die Strafe jüngst bestätigt. Der Fall Badawi ist zur Staatskrise geworden, an der sich auch die sozialen Spannungen studieren lassen, die auf der arabischen Halbinsel schwelen. Sechzig Prozent der Bevölkerung ist jünger als zwanzig. Sie wachsen mit Facebook und Twitter auf, manche studieren im Westen. Im Internet proben sie den freien Diskurs. Das Urteil gegen Badawi ist auch eine Warnung an sie. Bestrafe einen, erziehe hundert!

Die religiösen Hardliner hatten während des Prozesses sogar die Todesstrafe gefordert – ihre Meinung zählt etwas. Laut Verfassung regiert der saudische Monarch absolutistisch über sein Volk. Die rund 6000 Prinzen werden grosszügig aus der Staatskasse alimentiert und sind weltlichen Freuden nicht abgeneigt. Doch bis heute ist die Königsfamilie einem politischen Pakt verpflichtet, den ihr Stamm im 18. Jahrhundert mit dem fanatischen Wanderprediger al-Wahab schmiedete, um die arabische Halbinsel zu unterwerfen. Der nach ihm benannte «Wahabismus » ist eine ultrastrenge Lesart des Korans, aus dessen Geist auch al-Kaida und ISIS hervorgegangen sind. In Saudi-Arabien ist er Staatsreligion. Theater, Kinos und Konzertsäle sind verboten. Frauen müssen sich schwarz verhüllen, bei Ehebruch droht Steinigung. Wer dem Islam abschwört, soll öffentlich geköpft werden. Schon der Besitz einer Bibel ist strafbar.

Noch bevor Badawi angeklagt wird, beginnen die Schikanen. Vor einem Supermarkt wird er mit einem Messer attackiert, die Familie erhält Drohanrufe.

«Ich habe mich in meiner Heimat nie wie ein menschliches Wesen gefühlt», sagt Ensaf Haidar. «Nur in meiner Ehe mit Raif fühlte ich mich frei.» Im Jahr 2008 stellte ihr Mann das Forum «Freie saudische Liberale» ins Netz. «Er wollte den Menschen eine Möglichkeit geben, sich auszudrücken und über Menschenrechte zu diskutieren», sagt Ensaf Haidar. «Natürlich wusste er, dass das heikel ist. Aber er hat die Gefahr total unterschätzt. » Noch bevor Badawi angeklagt wird, beginnen die Schikanen. Vor einem Supermarkt wird er mit einem Messer attackiert, die Familie erhält Drohanrufe. Ensaf Haidar flüchtet Ende 2011 nach Beirut und schliesslich ins kanadische Québec, um sich und die drei gemeinsamen Kinder in Sicherheit zu bringen. «Wir dachten, Raif könne bald nachkommen. Er kann das Urteil bis heute nicht fassen.»

Einer von vielen

Für die USA und Europa war Saudi-Arabien lange Zeit das Lieblingskind unter den Diktaturen am Persischen Golf. Das Land schwimmt auf den weltweit grössten Ölquellen, und die Königsfamilie Saud ist seit den 1950ern ein verlässlicher Partner des Westens. Dass nun über die Menschenrechtsbilanz des Regimes öffentlich verhandelt wird, ist auch Ensaf Haidar zu verdanken. Aus dem kanadischen Exil koordiniert sie den globalen Widerstand, twittert, reist zu Protestkundgebungen, trifft Verbündete – wie nun in Berlin. «Es ist die grösste Menschenrechtskampagne, die wir je gesehen haben», sagt sie. «Amnesty International hat mir immens geholfen, den Fall so prominent zu machen.» Die Kampagne hat auch in den Blick gerückt, dass Raif Badawi einer von vielen ist. Hunderte politische Häftlinge werden in saudischen Gefängnissen vermutet, selbst Badawis Rechtsanwalt Waleed Abu al-Khair sitzt mittlerweile hinter Gittern.

Alle paar Tage darf Raif Badawi seine Frau anrufen, die Gespräche dauern wenige Minuten. Als sie ihm erzählte, dass sich Menschen auf der ganzen Welt mit ihm solidarisieren, konnte er es nicht glauben. «Ich halte ihn auf dem Laufenden, was sich draussen abspielt. Es gibt ihm enorme Kraft, durchzuhalten. Leider unterstützt uns in Saudi-Arabien kaum jemand.» Sogar Ensaf Haidars Familie hat sich von ihr losgesagt. Ihre Eltern sind tief religiös, die Ehe mit Raif haben sie nie akzeptiert – das öffentliche Engagement schon gar nicht.

Haus der Berliner Festspiele, Donnerstag, 20 Uhr. Es ist ein grosser Gala-Abend, Amnesty International zeichnet Kunstschaffende aus, die sich für die Menschenrechte eingesetzt haben. Die Folk- Sängerin Joan Baez wird einen Preis bekommen, Patti Smith hält die Laudatio, Ai Weiweis sechsjähriger Sohn wird eine Trophäe für seinen Vater entgegennehmen. Ensaf Haidar sitzt in der fünften Reihe und wartet auf ihren Auftritt. Sie wirkt erschöpft, der Terminmarathon hat ihr zugesetzt, das ständige Im-Rampenlicht- Stehen auch. «Ich bin eigentlich ein schüchterner Mensch», sagt sie. Um 21.10 Uhr erlischt das Licht, ein Video ihrer Kinder wird eingespielt. Ensaf Haidar betritt die Bühne, hinter ihr projiziert jemand das Konterfei ihres Mannes auf die Leinwand. Sie beginnt zu reden, nach wenigen Worten gerät sie ins Stocken, die Stimme löst sich in Tränen auf.

Ensaf Haidars Familie hat sich von ihr losgesagt. Ihre Eltern sind tief religiös, die Ehe mit Raif haben sie nie akzeptiert – das öffentliche Engagement schon gar nicht.

Am nächsten Tag kommt die erlösende Nachricht: Auch heute wird die Prügelstrafe nicht vollzogen. Berlin-Tiergarten, 12 Uhr. Ensaf Haidar steht vor der saudischen Botschaft, einem architektonischen Ungeheuer aus Glas, Beton und Stahl, das steil in den knallig blauen Maihimmel ragt. Kleine Frau vor grosser Botschaft, ein Dutzend Fotografen wetteifern ums beste Bild. Rund hundert Berliner und Berlinerinnen sind gekommen, um mit Ensaf Haidar zu demonstrieren. «Lasst mich zu den Leuten», sagt sie. Dann schnappt sie sich das Mikrofon.

Von Ramin M. Nowzad