Amnesty: Sogar der Papst heisst neuerdings Schwule undLesben in seiner Kirche willkommen. Ist Homophobie wirklich noch ein grosses Problem?
Andreas Langenohl: Schon den Begriff «Homophobie» finde ich problematisch. Denn er suggeriert, dass es sich bei der Ausgrenzung sexueller Minderheiten um ein Randphänomen unserer Gesellschaft handle. In Wirklichkeit sind Schwule, Lesben und Transgender meines Wissens noch nirgends auf der Welt Heterosexuellen in puncto Partnerschaft rechtlich vollkommen gleichgestellt.
Zumindest traut sich heute bei uns kaum noch jemand, Homosexuelle öffentlich verächtlich zu machen. Brodelt es unter der Decke der politischen Korrektheit weiter?
Auf der einen Seite hat sich tatsächlich etwas verändert. Für viele Eltern ist es kaum noch ein Problem, wenn sich der Sohn oder die Tochter als homosexuell outet oder das erste Mal den Freund beziehungsweise die Freundin mit nach Hause bringt. Auf der anderen Seite lässt sich aber auch beobachten, dass sich homosexuelle Paare in manchen Gegenden, sogar in Szenevierteln, nicht so einfach händchenhaltend auf die Strasse trauen, weil sie befürchten müssen, angepöbelt zu werden. Das sind zwei Entwicklungen, die parallel laufen: Einerseits eine Normalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, andererseits eine, wie ich fürchte, zunehmende öffentliche Gefährdung, wenn Homosexualität sichtbar wird.
Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass Schwule und Lesben plötzlich sozial akzeptiert wurden? Früher galten Homosexuelle als pervers. Heute finden wir es pervers, Schwule und Lesben zu verurteilen.
Das hat verschiedene Gründe. Seit den sechziger Jahren beobachten wir, dass sich in westlichen Gesellschaften die Formen des Zusammenlebens pluralisieren. Neben das klassische Modell der heterosexuellen Kernfamilie – also Vater, Mutter und leibliche Kinder – treten immer häufiger Alternativen: kinderlose Ehen, Alleinerziehende, Patchwork-Familien, Fernbeziehungen. Das hat es erleichtert, auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu akzeptieren. Zum anderen hat die Politik eine Vorreiterrolle gespielt, indem sie damit begann, die Rechte homosexueller Partnerschaften auszuweiten. Anfangs traf das in der Bevölkerung keineswegs auf ungebrochene Zustimmung. Die Politik agierte gewissermassen avantgardistisch – und hatte auf lange Sicht einen erzieherischen Effekt auf die Gesellschaft.
Gegen die «Homo-Ehe» regt sich allerdings noch immer heftiger Widerstand. Warum eigentlich?
Weil es hier gewissermassen ans Eingemachte der Mehrheitsgesellschaft geht. Wenn Homosexuelle die Ehe einfordern – einschliesslich des Rechts, Kinder zu adoptieren –, stellen sie die überkommenen Geschlechterrollen sehr stark in Frage. Nach traditioneller Auffassung gibt es ja eine Arbeitsteilung der Geschlechter: Der Mann ist dafür zuständig, Geld zu verdienen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Die Frau schmeisst den Haushalt, kümmert sich um die Kinder und hält dem Mann den Rücken frei. Schwule und Lesben zeigen der Gesellschaft, dass diese eingespielten Rollen von Mann und Frau nicht naturgegeben sind, sondern dass es sich um eine kulturelle Norm handelt. Homophobie hat insofern auch etwas damit zu tun, dass die Geschlechter in unserer Gesellschaft noch immer nicht gleichberechtigt sind.
Wer Schwule und Lesben hasst, hat besonders rigide Vorstellungen, wie sich Männer und Frauen «eigentlich» zu verhalten haben?
Ja, der Hass auf Schwule und Lesben ist grundsätzlich überall dort zu finden, wo sehr traditionelle Vorstellungen herrschen, was ein Mann oder eine Frau ist. Immer wenn starke, unverhandelbare Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit im Spiel sind, stossen wir auf Homophobie – denken Sie an den männlichen Profifussball! Homophobie hat etwas mit der Überschreitung vorgegebener, angeblich naturgegebener Geschlechterrollen zu tun. Schwule und Lesben gelten dann als Personen, die ihrem Geschlecht nicht gerecht werden. Das sieht man ja auch daran, wie Schwule verspottet werden. Man schreibt ihnen klischeehaft weibliche Charaktermerkmale zu. Umgekehrt gilt das Gleiche für Lesben.
Wobei unsere Kultur mit homosexuellen Männern immer schon ein grösseres Problem hatte. Auch in manchen afrikanischen Staaten müssen Schwule mit Haftstrafen rechnen, Lesben nicht.
Das hängt wohl auch mit der Ungleichberechtigung der Geschlechter und den unterschiedlichen Rollenzuschreibungen zusammen. In der traditionellen Klischeevorstellung sind Männer aktiv und Frauen passiv. Dies gilt auch in Sachen Sexualität. Von einem Mann geht die sexuelle Initiative aus, weswegen es besonders verwerflich ist, wenn er diese Initiative in die «falsche» Richtung lenkt. Die Frau gilt dagegen als Objekt sexuellen Begehrens. Deswegen wird die gleichgeschlechtliche Orientierung einer Frau womöglich weniger ihrer Subjektivität angelastet, sie gilt ja ohnehin als passives Geschöpf.
Es hat den Anschein: Je mehr Rechte sich sexuelle Minderheiten im Westen erkämpfen, desto heftiger geraten sie in anderen Weltregionen unter Druck. Ist das tatsächlich so?
Zumindest gibt es für dafür einige grelle Beispiele: etwa Nigeria oder Uganda. Dort ist die Diskriminierung mittlerweile staatliche Politik, und in den vergangenen Jahren wurden drakonische Gesetze gegen homosexuelle Handlungen erlassen. Ein anderes Beispiel ist Russland. Bei den jüngsten Vorgängen dort hat man das Gefühl, dass Homophobie in Russland fast zu einer Art Staatsideologie geworden ist, die verschiedenen Zwecken dient – und diese Zwecke haben nur teilweise etwas mit Homosexuellen zu tun.
Sondern?
Zum einen wird Homophobie instrumentalisiert, um sich vom Westen abzugrenzen. Es besteht in Russland eine enge Verbindung von Homophobie und der Ablehnung Europas. Das kann man in Talkshows des russischen Fernsehens immer wieder hören. Auch in der russischen Medienberichterstattung des Ukraine-Kriegs spielt dies eine Rolle. Es gibt daneben aber auch noch ein anderes Motiv. Die Duma verabschiedete 2013 das Verbot der «Propaganda von nicht traditionellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen». Dieses Gesetz macht es riskant, in der Öffentlichkeit über Homosexualität auch nur zu sprechen. Es richtet sich also nicht allein gegen Schwule und Lesben, sondern gegen die gesellschaftliche Allianzfähigkeit überhaupt. Das Gesetz verhindert, dass sich andere gesellschaftliche Gruppen – beispielsweise NGOs – mit Schwulen und Lesben solidarisieren können. Homophobie wird also in Stellung gebracht, um den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft weiter einzuschränken.also nicht allein gegen Schwule und Lesben, sondern gegen die gesellschaftliche Allianzfähigkeit überhaupt. Das Gesetz verhindert, dass sich andere gesellschaftliche Gruppen – beispielsweise NGOs – mit Schwulen und Lesben solidarisieren können. Homophobie wird also in Stellung gebracht, um den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft weiter einzuschränken.
Interview: Ramin M. Nowzad