In den frühen Morgenstunden des 3. Augusts 2014 griffen Kämpfer der bewaffneten Gruppe, die sich selbst Islamischer Staat (IS) nennt, die nordirakische Stadt Sinjar an. Nach ein paar Stunden flohen die angegriffenen KämpferInnen der Peschmerga, und die schwarzen Fahnen des IS wurden auf den Regierungsgebäuden gehisst. Die IS-Kämpfer versammelten die anwesenden Familien, erschossen wahllos die Männer und warfen diese in Gräben. Sie nahmen Tausende von Frauen und Kindern gefangen, behandelten sie wie Kriegstrophäen und verschacherten sie in die Sklaverei. Die meisten dieser Frauen und Kinder gehören der religiösen Minderheit der Jesiden an, einer der ältesten monotheistischen Religionen der Welt, deren Zentrum Sinjar ist.
Zeugnisse des Schreckens
Seivan Salim lächelt scheu und spricht zögerlich Englisch, aber furchtsam ist sie nicht. Die kurdische Fotojournalistin begab sich fünf Tage nach der Eroberung Sinjars an die Grenze zwischen dem Irak und Syrien. Dort sah sie das Ausmass der Verbrechen, die die Jihadisten begangen hatten. «Es war wie in einem Horrorfilm. Überall lagen Leichen», erklärt sie. Seit diesem blutigen Tag konnten kurdische KämpferInnen Sinjar zurückerobern. Mehr als 1000 Frauen gelang es, sich aus den Fängen des IS zu befreien. Aber Seivan Salim vergisst nicht, was geschehen ist. Niemand vergisst das. «Die IS-Kämpfer haben die jesidischen Frauen wie Tiere behandelt. Sie haben sie verkauft, gekauft, gefoltert, wiederholt vergewaltigt. Ich dachte, so etwas könne gar nicht mehr passieren», sagt sie. Die Fotografin beschloss, Berichte und Fotos von diesen Frauen zu sammeln, die in den Lagern von Dohuk Unterschlupf gefunden hatten. «Die Welt sollte wissen, was mit diesen Frauen geschehen ist. Sie sind rare Zeuginnen des Lebens unter der Herrschaft des Islamischen Staates.» Sie fotografierte die geflohenen Frauen und schrieb auf, was sie zu berichten hatten. Eine Porträtserie namens «Escaped» wurde vor Kurzem im Rahmen des Projekts Map of displacement* veröffentlicht.
«Die Geschichten, die ich gehört habe, sind unglaublich traurig», sagt Seivan Salim. «Syhan wurde am 15. August 2014 gefangen genommen und ist während ihrer Gefangenschaft schwanger geworden. Im achten Monat der Schwangerschaft gelang ihr die Flucht. Nachdem sie in der Türkei geboren hatte, kehrte sie in den Nordirak zurück. Heute weiss sie nicht, wo sich ihr Kind befindet», sagt Seivan Salim. Sie sucht nach den richtigen Worten und lässt keine Details aus. «Auch Shirin wurde am 15. August 2014 entführt, zusammen mit der ganzen Familie, mit Ausnahme eines Bruders. Die Kämpfer brachten sie nach Mossul. Dort verkauften sie die junge Frau an einen Mann mit albanischen Wurzeln, der mit fünf anderen Familien zusammenwohnte. Man zwang sie, den Haushalt zu machen, wie eine Muslimin zu beten und mit allen Männern im Haus Sex zu haben. Nach sieben Monaten Gefangenschaft konnte sie fliehen und mit der Hilfe ihres Bruders über die türkische Grenze gelangen. Ihre restliche Familie ist aber immer noch in der Gewalt des IS.»
Hoffnung vermitteln
Seivan Salim fotografierte die Frauen einzeln im Dunkel der Flüchtlingszelte. Die Abgelichteten trugen dabei ein traditionelles jesidisches Hochzeitskleid. «Weiss steht für Reinheit und Jungfräulichkeit. So will ich zeigen, dass diese Frauen unschuldig sind. Ein Teil ihres Lebens wurde ihnen gestohlen. Aber heute haben sie das Recht auf eine Heirat und eine Zukunft! » Die Fotoreportage dient vor allem der historischen Dokumentation, die kurdische Journalistin sieht darin aber auch ein Symbol der Hoffnung.
1000 Frauen ist es gelungen, dem blutigen «Kalifat» zu entkommen. Doch 4000 ihrer Leidensgenossinnen sind noch immer Gefangene des IS. Die Fotos von Seivan Salim sind auch ein Hilferuf. «Wie können diese Frauen weiterleben, nachdem sie verkauft und wiederholt vergewaltigt wurden?», fragt sie sich. «Die jesidische Gemeinschaft braucht sofort Hilfe. Die Welt muss alles in ihrer Macht Stehende tun und dieses Massaker stoppen!»
*Das Projekt Map of displacement (Karte der Vertriebenen) wurde von der irakischen Fotoagentur Metrography gestartet. Es zeigt, welch hohen Preis die Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten Iraks zahlt.