Die sexuelle Gewalt, die von der syrischen Regierung gegenüber Frauen angewandt wird, ist ein wenig bekannter Aspekt dieses schrecklichen Krieges. Das Regime von Bashar al-Assad zielt ganz bewusst auf die Frauen. Denn es weiss, dass die Inhaftierung einer Frau die ganze Familie trifft. Mit Hilfe des Geheimdienstes oder von Milizen werden Frauen inhaftiert und danach sexuell missbraucht. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte hat 7686 Fälle gezählt, in denen Frauen Opfer sexueller Gewalt wurden, darunter 432 Mädchen, die jünger als 18 Jahre waren.
Das Regime von Bashar al-Assad zielt ganz bewusst auf die Frauen.
Die wahren Zahlen dürften um ein Vielfaches höher sein. Oft wird aus einer solchen willkürlichen Verhaftung ein Fall des Verschwindenlassens. Doch die Regierung verneint, diese Frauen verhaftet zu haben, auch wenn Familien es bezeugen können.
Brutale Botschaft
«Am 13. Mai 2011 habe ich den ersten Fall einer Frau dokumentiert, die in Homs entführt wurde», erinnert sich Nura al-Jiawie, die ehemalige Vizepräsidentin der Nationalen Koalition der syrischen Revolutionsund Oppositionskräfte. «Es war am Tag, den wir zum ‹Freitag der freien Frauen Syriens› gemacht hatten. Wir wollten gerade das Engagement der Frauen in der Revolution feiern», erzählt sie weiter. «Die Shabiha, das sind regimefreundliche Milizen, haben diese Frauen entführt. Sie wurde im Haus einer der Anführer gefoltert und vergewaltigt. Wir haben die Botschaft sehr schnell verstanden. Das Regime wollte die Frauen dafür bestrafen, dass sie sich an der Protestbewegung beteiligt hatten.»
Mit den ersten Demonstrationen begann Nura die Gewalt in Homs – ihrer Heimatstadt – und danach auch in Aleppo zu dokumentieren. Im Mai 2012 wird sie selbst an einer Busstation vom Regime entführt und fünf Monate unter Folter im Frauengefängnis von Adra in Damaskus festgehalten. Heute lebt die 29-jährige Aktivistin als Flüchtling in der Türkei.
Eine Kriegswaffe
«Diese Form der Gewalt wurde zu einer Waffe des Regimes, um die Clans zu zerschmettern und den Widerstand zu brechen», bestätigt die französische Reporterin Manon Loizeau, die soeben einen Dokumentarfilm mit dem Titel «Silent War» beendet hat. Mit der Eskalation des Konflikts und der Militarisierung der Opposition breitete sich diese Praxis über das ganze syrische Territorium aus. Frauen werden oft auch für den Austausch von Gefangenen verwendet oder um Lösegeld zu erpressen. Auch gewisse bewaffnete Truppen der Regimegegner greifen auf diese Methoden zurück, offenbar aber nicht systematisch.
«Das syrische Haftsystem basiert auf einer Abfolge von systematischer Aggression und Demütigung, schon an der Schwelle des Gefängnisses», erklärt Sema Nassar, die Direktorin der Organisation URNAMMU, einem Mitglied des Netzwerks Euro-Med Rights. Sema Nassar ist auch Mitautorin des Berichts «Frauen in Haft: Eine Waffe von Krieg und Terror». «Es gibt nur sehr wenig weibliches Personal unter den Sicherheitskräften und in den Gefängnissen. Die Leibesvisitationen und die Befragungen werden also von Männern durchgeführt. Laut ehemaligen Gefängniswächtern waren alle Methoden erlaubt, die es brauchte, um an Informationen zu kommen. Es musste überhaupt keine Rechenschaft abgelegt werden», sagt Sema Nassar. Auch wenn es keine Beweise von formellen Instruktionen von ganz oben gibt, so scheint die sexuelle Gewalt doch institutionalisiert zu sein.
In der konservativen syrischen Gesellschaft sind Vergewaltigung und sexueller Missbrauch weiterhin extreme Tabuthemen.
«Es ist offensichtlich, dass es sich um eine Strategie handelt. Die Soldaten verwenden Aufputschmittel und es werden Verhütungsmittel an einige Häftlinge verteilt», ergänzt Manon Loizeau.
In der konservativen syrischen Gesellschaft sind Vergewaltigung und sexueller Missbrauch weiterhin extreme Tabuthemen. Dies ist der Grund, warum es so schwierig ist, die Misshandlung von Frauen in Gefängnissen zu dokumentieren. Im Rahmen ihrer Arbeit am Bericht für Euro-Med Rights haben Sema Nassar und ein Team von sechs syrischen ForscherInnen 53 Interviews mit ehemaligen Gefangenen geführt, die nach Jordanien, in die Türkei oder den Libanon geflohen sind. Die Aussagen der Zeuginnen sind fürchterlich. «Nachdem sie mich ausgezogen haben, haben die zwei Männer die Zelle verlassen und mich mit meinem sechzehnjährigen Sohn nackt zurückgelassen. Einer der beiden ist dann zurückgekommen und hat angefangen, mich zu schlagen und zu vergewaltigen – vor den Augen meines Sohnes. Der Zweite machte dasselbe. Danach kamen sieben Männer, die mich nacheinander vergewaltigten. Ich habe nichts mehr gespürt, ich war ohnmächtig geworden», erzählte Sawsan, die elf Monate lang in verschiedenen Sektoren der Geheimdienste in der Region Damaskus festgehalten wurde. Wenn sie selber nicht vergewaltigt werden, müssen manche Frauen bei der Misshandlung anderer Gefangener assistieren: «Am dritten Tag meiner Haft haben sie mich in einen anderen Raum geführt und gezwungen, bei der Vergewaltigung einer Gefangenen zu helfen. Zwei Offiziere haben ihr die Arme festgehalten, während der dritte gewaltsam in sie eindrang. Sie versuchte sich zu wehren, vergeblich. Ich habe das Bewusstsein verloren und sie haben mich ins Verhörzimmer gebracht», sagt Nirvana, eine ehemalige Gefangene, die heute 28 Jahre alt ist.
Doppelte Folter
Die Tortur hört mit dem Ende der Haft nicht auf. Scham und Schuldgefühle begleiten die Frauen nach ihrer Entlassung. «In der Bevölkerung glaubt man, dass jede Frau, die im Gefängnis war, vergewaltigt wurde. Auch wenn das nicht stimmt, so verachtet die Gesellschaft diese Frauen. Sie erleiden eine doppelte Folter», erklärt Sema Nassar. Die Haftentlassenen finden nur schwer eine Arbeit und bewegen sich nicht frei, aus Angst, noch einmal verhaftet zu werden. Einige Frauen werden aus ihren Familien verbannt und von ihren Ehemännern abgewiesen. Ledige Frauen werden zwangsverheiratet oder gezwungen, das Land zu verlassen, um die «Schande zu tilgen», die ihre Vergewaltigung über die Familie gebracht hat.
Die Schande der Haft: Freigelassene Frauen werden verstossen, zwangsverheiratet oder gezwungen, das Land zu verlassen.
Im schlimmsten Fall werden die Frauen Opfer von sogenannten Ehrenmorden, um die «Würde der Familie wiederherzustellen ». Andere begehen Selbstmord. «Als ich aus der Haft entlassen wurde, ging ich zu meiner Tante. Sie warf mir vor, im Gefängnis ein Objekt von beschämenden Praktiken gewesen zu sein und die Familienehre befleckt zu haben. Sie zwang mich, nach Damaskus zurückzukehren. […] Einige Monate später haben zwei junge Männer versucht, mich zu ermorden», erzählt die 19-jährige Zaina, die im Rahmen des Berichts von Euro-Med Rights befragt wurde.
«Es ist schrecklich, aber die syrische Gesellschaft hat die Tendenz, ehemalige Häftlinge als mitschuldig zu betrachten an der Gewalt, die sie erlebt haben. Es gibt nur wenig Unterstützung für sie», sagt Nura al-Jizawi. Die junge Frau hat im Januar 2015 die Organisation Start Point gegründet, die anderen Opfern von Missbrauch durch die Regierung helfen will. «Wir können den Krieg nicht beenden, nicht die Entführungen, die Haft, die Folter. Aber wir können unsere Hand den Überlebenden entgegenstrecken. Es braucht einen Mentalitätswandel, damit diese Frauen nicht mehr als Opfer, sondern als Heldinnen betrachtet werden!»