Die Karte zeigt, wie viele Flüchtlinge die Schweiz 2016 im Rahmen der Dublin-Verordnung in andere europäische Länder zurückgeschickt und wie viele sie aus diesen Ländern aufgenommen hat. © muellerluetolf.ch, Quelle: Staatssekretariat für Migration. In Zusammenarbeit mit Vivre Ensemble.
Die Karte zeigt, wie viele Flüchtlinge die Schweiz 2016 im Rahmen der Dublin-Verordnung in andere europäische Länder zurückgeschickt und wie viele sie aus diesen Ländern aufgenommen hat. © muellerluetolf.ch, Quelle: Staatssekretariat für Migration. In Zusammenarbeit mit Vivre Ensemble.

MAGAZIN AMNESTY Schweiz Im Namen von Dublin

Von Manuela Reimann Graf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von August 2017.
Die Schweiz hat versprochen, bis Ende 2017 freiwillig 1500 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufzunehmen. Eine grosszügige Geste? Nein, denn gleichzeitig schaffte die Schweiz mehr als doppelt so viele Asylsuchende in die beiden überlasteten Länder zurück – mit dramatischen Folgen.

In der Asyldebatte gibt es kaum ein Reizwort, das so viel Kritik hervorruft wie die sogenannte Dublin-Verordnung. Sie regelt die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa und schreibt vor, dass im Normalfall derjenige Staat für einen Asylantrag zuständig ist, in dem ein Flüchtling erstmals europäischen Boden betreten hat. In der Regel sind dies Länder an den Aussengrenzen Europas, wie Italien, Griechenland oder Ungarn. Auch die Schweiz beteiligt sich an der Dublin-Verordnung und profitiert dabei gewaltig von ihrer geografischen Lage als Binnenland: Die meisten Asylsuchenden, die in die Schweiz kommen, können zurückgeschickt werden, da sie zuvor ein anderes Dublin-Land betreten haben.

Die Schweiz brüstet sich immer wieder ihrer humanitären Tradition. Daher sollte man erwarten, dass sich die Schweiz in Härtefällen grosszügig zeigt. Zum Beispiel wenn eine Dublin-Rückführung eine Familie auseinanderreissen würde oder wenn eine asylsuchende Person dringend medizinisch behandelt werden muss. Die Dublin-Verordnung kennt für solche Fälle die sogenannte Souveränitätsklausel: Ein Dublin-Staat kann aus humanitären Gründen ein Asylverfahren einleiten, auch wenn eigentlich ein anderes Land zuständig wäre.

Doch die Schweiz wendet diese Klausel höchst selten an. «Die Schweiz ist dasjenige Land in Europa, das zwischen 2009 und 2016 am meisten Dublin-Überstellungen vorgenommen hat», sagt Cyrielle Huguenot, Campaignerin für Asyl und Migration bei Amnesty Schweiz. «Mehr als 25 000 Personen wurden in dieser Zeit in andere europäische Länder zurückgeschickt. Das sind mehr als 13 Prozent aller Asylsuchenden, die in die Schweiz gelangt sind.» Im Gegenzug hat die Schweiz in derselben Zeit nur 4443 Personen aus anderen Staaten übernommen. Im Vergleich: Deutschland schickt nur 3 Prozent der Asylsuchenden in andere europäische Länder zurück.

Abschreckung als Methode

Im Herbst 2015 hatte die Schweiz beschlossen, sich am ersten europäischen Programm zur Aufteilung von Asylsuchenden zu beteiligen. Der Bundesrat sagte damals zu, 900 Personen aus Italien und 600 Personen aus Griechenland aufzunehmen, um diese beiden Länder zu entlasten. Ende Mai 2017 meldete das Staatssekretariat für Migration, dass bereits 605 Personen aus Italien in die Schweiz eingereist seien. Was dabei unter den Teppich gekehrt wurde: Mehr als dreimal so viele Menschen hat die Schweiz im selben Zeitraum nach Italien zurückgeschickt.

«Die Botschaft ist klar: Wenn ihr via ein Dublin-Land in die Schweiz kommt, habt ihr keine Chance, hier Asyl zu finden.» Denise Graf, Asylrechtsexpertin bei Amnesty Schweiz

«Diese äusserst strenge Anwendung der Dublin-Verordnung hat meines Erachtens die klare Absicht, die Flüchtlinge von der Einreise in die Schweiz abzuschrecken und die Schweiz weniger attraktiv zu machen», sagt Denise Graf, Asylrechtsexpertin bei Amnesty Schweiz. «Die Botschaft ist klar: Wenn ihr via ein Dublin-Land in die Schweiz kommt, habt ihr keine Chance, hier Asyl zu finden. Das Problem ist dabei, dass Flüchtlinge, die dringend Schutz benötigen, somit in einem langwierigen Rückführungsverfahren hängenbleiben, statt dass die Schweiz ihr Asylgesuch annimmt.»

Besorgniserregend ist insbesondere, dass die Schweiz Personen auch in Länder wie Ungarn oder Bulgarien zurückschickt, wo die Aufnahmebedingungen besonders schlecht sind und Flüchtlinge häufig illegal abgeschoben werden. Ungarn hat im März 2017 als neueste Abschreckungsmassnahme die Internierung sämtlicher Asylsuchender in Transitzonen verhängt. Damit war der Bogen überspannt: Am 31. Mai urteilte das Bundesverwaltungsgericht, dass das Staatssekretariat für Migration Asylsuchende nicht mehr nach Ungarn abschieben darf.

Aber auch Rückführungen in andere Länder sind oft höchst bedenklich. Italien ist angesichts der grossen Zahl an Flüchtlingen längst nicht mehr in der Lage, allen Asylsuchenden eine angemessene Unterkunft und ein korrektes Verfahren zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere für verletzliche Personen wie Familien mit kleinen Kindern, Schwangere und Kranke. «Die Schweiz schickte 2016 beispielsweise über 40 Familien nach Italien zurück », sagt Cyrielle Huguenot. «Der Informationsaustausch zwischen den Schweizer und den italienischen Behörden funktioniert nicht ausreichend. So wurde beispielsweise einer schwangeren Frau, die nach Italien zurückgeführt wurde, dort beschieden, dass sie selbst für eine Unterkunft sorgen müsse – die italienischen Behörden waren über die Schwangerschaft nicht im Bilde.»