Albert Woodfox © AIUK
Albert Woodfox © AIUK

MAGAZIN AMNESTY Jetzt erst Recht «Gib mir Zitronen, ich mache Limonade draus»

Von Arndt Peltner. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Dezember 2017.
Albert Woodfox sass länger in Isolationshaft als jeder andere Gefangene der USA. Im Gefängnis brachte er sich juristisches Wissen bei, um für seine Freilassung zu kämpfen.

«Jemand fragte mich mal, wenn ich etwas in meinem Leben ändern könnte, was das wäre. Ich habe kurz darüber nachgedacht und gesagt: ‹Nichts›.» Albert Woodfox sitzt auf der überdachten Veranda seines Hauses in einem Randbezirk von New Orleans. Es ist ein sonniger Morgen, es soll heiss werden an diesem Montag. In seinem spartanisch eingerichteten Haus dreht sich ein riesiger, lautstarker Ventilator. Die Wände in seinem Haus sind kahl, bis auf eine Uhr und eine Fahne mit dem Black Panther-Symbol, dazu noch ein Bild von ihm und seinen Freunden und Weggefährten Robert King und Herman Wallace. Die drei wurden als die «Angola 3» bekannt.

43 Jahre Isolationshaft

Woodfox, King und Wallace kamen 1971 unabhängig voneinander für bewaffnete Raubüberfälle ins Gefängnis. Ein Jahr später wurde der 23-jährige Strafvollzugsbeamte Brent Miller erstochen. Woodfox und Wallace, die bereits hinter Gittern eine Untergruppe der Black Panther Party aufgebaut hatten, wurden für den Mord verantwortlich gemacht, obwohl keinerlei Beweise vorlagen, DNA-Spuren nicht beachtet wurden und sich die Staatsanwaltschaft ausschliesslich auf die Aussagen eines fragwürdigen Augenzeugen berief. Robert King wurde nicht für den Mord belangt, auch wenn die Ankläger glaubten, dass er mit der Tat etwas zu tun habe. Alle drei wurden nach dem Urteilsspruch in Isolationshaft untergebracht. Jahrzehntelang kämpften sie für ihre Unschuld und ihre Freilassung. Robert King kam 2001 nach 29 Jahren frei. Herman Wallace 2013 nach 41 Jahren und Albert Woodfox 2016 nach 43 Jahren.

«Was ich erlebt habe, hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ich würde nicht versuchen, daran etwas zu ändern.»

«Was ich erlebt habe, hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin», sagt Albert Woodfox auf seiner Terrasse. «Ich würde nicht versuchen, daran etwas zu ändern. Auch wenn mir zwei Drittel meines Lebens gestohlen wurden.» Der 70-jährige Albert Woodfox wirkt fragil, während er spricht, es liegt vielleicht auch an der Erkältung, mit der er sich seit Wochen rumquält. Immer mal wieder lutscht er auf seinen Hustenbonbons herum. Er sagt, eigentlich sei er introvertiert. Er liebe es, mit sich allein zu sein. «Aber aus der Notwendigkeit heraus wurde ich extrovertiert, denn man kann keine Führungsperson sein, man kann das nicht weitergeben, was man will, wenn man sich zurückzieht.» Und so sitzt er da und redet über sich, seine Gedanken, seine Gefühle, seine fast 44 Jahre hinter Gittern im Louisiana State Penitentiary, den Grossteil davon in «Solitary Confinement», in Isolationshaft.

Niemals aufgeben

Woodfox redet mit ruhiger Stimme in breitem Südstaatenakzent. Er kennt die Fragen von JournalistInnen und Menschen, die ihn kennenlernen wollen. Vor allem die, wie man so lange ein Leben in Isolationshaft überstehen konnte. Immer wieder führt er zwei Menschen an, die ihn geprägt und ihm im Leben geholfen haben, auch in diesen schweren und einsamen Zeiten in der Zelle. Seine Mutter und seinen Freund und Mitgefangenen Robert King. «Ich glaube, vieles, was mir in diesen Jahren geholfen hat, habe ich von meiner Mutter. Sie hat mein Fundament gelegt. Stärke und Durchhaltevermögen, Loyalität und Hingabe, die Bereitschaft, sich zu opfern.» Seine Mutter, so Woodfox, sei Analphabetin gewesen, mehr als ihren Namen konnte sie nicht lesen oder schreiben. So seien aber  Afroamerikaner in jener Zeit behandelt worden, das System kümmerte sich nicht um die Bildung von Schwarzen. «Aber sie gab nie auf. Daran musste ich immer denken, wenn ich frustriert und voller Zorn war. Sie sorgte für uns, gab uns ein Dach über dem Kopf, Essen, Kleidung, brachte uns zum Arzt, wenn wir krank waren. Sie schlug sich durch das System, ein rassistisches System. Ich dachte immer an sie, wenn ich an meine Grenzen stiess. Niemals aufgeben. Und ich sagte mir, wenn meine Mutter das konnte, dann kann ich das auch. So lange man kämpft, hat man eine Chance. Wenn du nicht kämpfst, hast du verloren.»

Auch sein Mitgefangener und Freund Robert King habe ihm durch die schwierigen Zeiten geholfen, sagt er mit einem Lächeln: «Robert hat immer gesagt, gib mir Zitronen und ich mache daraus Limonade.» Heisst, egal was kommt, stell dich darauf ein, mach das Beste aus der Situation. Und genau danach lebten sie. Albert Woodfox, Robert King und Herman Wallace gründeten im Gefängnis eine Sektion der Black Panther Party, die einzige Untergruppe der  radikalen afroamerikanischen Politbewegung hinter Gittern überhaupt. Sie organisierten Hungerstreiks, schulten ihre Mitgefangenen, widersetzten sich dem repressiven Gefängnisalltag. Dafür landeten sie immer wieder aufs Neue in strenger Isolationshaft. Die Leitung von Angola wollte sie brechen, doch scheiterte am Willen der drei. «Ich weigerte mich, mich jedes Mal nackt vor allen auszuziehen, wenn ich aus meiner Zelle kam. Andere Häftlinge schauten mit ihren Spiegeln zu, die sie durchs Gitter hielten. Die Wärter machten teils rassistische und erniedrigende Kommentare. Da machte ich nicht mehr mit. Dafür kam ich erneut in den ‹Dungeon›, den Knast im Knast.»

Kämpfen für die Freunde

«Wir hatten diese unglaublich tiefe Freundschaft. Dies gab uns die Kraft, die wir brauchten.»

«Dungeon» heisst 24 Stunden in einer kahlen Zelle. Kein Hofgang, kein Tisch, kein Stuhl, nur eine Toilette und ein kleines Waschbecken. Nur eine Matratze zum Schlafen. Ein kleines Fenster, doch der Blick nach draussen ist versperrt. Die Mahlzeiten werden in der Zelle eingenommen. Gelegentlich darf geduscht werden. Man ist allein. Hier nicht durchzudrehen, nicht aufzugeben, nicht gebrochen zu werden, erfordert viel Willenskraft. Woodfox, King und Wallace glaubten an sich und an das, für was sie kämpften. Irgendwie schafften sie es, auch im «Dungeon» miteinander zu kommunizieren, kleine Briefchen wurden zwischen den Zellen hin und her geschmuggelt, Gespräche wurden unter der Tür durch geführt. Immer wieder kamen sie aus dem «Dungeon», gestärkt darin, dass ihr Kampf weitergehen wird, weitergehen muss. «Wir hatten diese unglaublich tiefe und innige Freundschaft, die auch und trotz dieser schlimmsten Umstände überlebte. Ich glaube, diese Freundschaft gab uns die Kraft, die wir brauchten.»

Als King als Erster entlassen wurde, kämpfte er 16 Jahre lang unermüdlich für unsere Entlassung. Er reiste um die Welt, durchs ganze Land und erzählte die Geschichte der Angola 3. Er hatte uns versprochen, nicht eher zu ruhen, bis Herman und ich auch frei kommen würden. Und er hielt sein Versprechen. Herman starb drei Tage nach seiner Entlassung, aber als freier Mann. Drei Jahre später gewann auch ich meine Freiheit wieder.»

Mit ruhiger Stimme erzählt er weiter, wie die drei die Black Panther Party im Gefängnis organisierten. «Ich habe viel gelesen, mich weitergebildet und war ständig damit beschäftigt, andere mitzuziehen. Die anderen hörten von Dingen, die sie wahrscheinlich noch nie gehört hatten. Armut erzeugt Individualismus, wir hingegen sprachen von Einheit, vom Miteinander, vom Teilen. Unsere Leute hielten sich an bestimmte Regeln, die wir setzten: keine Vergewaltigung, kein Stehlen, keine Gewalt gegeneinander. Dazu die Grundprinzipien der Black Panther Party.»

Woodfox, King und Wallace kämpften im Gefängnis. Wenn Einsprüche an die Direktion der Strafanstalt nichts einbrachten oder in 95 Prozent der Fälle einfach ignoriert wurden, griffen die Häftlinge zur härtesten Form ihrer Widerstandsmöglichkeit, zum Hungerstreik. Und dieser wurde meist mit Gewalt und Tränengas gestoppt. Die Zellen wurden durchwühlt und alles auf einen Haufen geschmissen, die drei Black Panther-Führer landeten erneut im «Dungeon».

Rechtskunde im Gefängnis

«Im Laufe der 80er Jahre mussten wir erkennen, dass wir so nichts gegen sie ausrichten können. Also mussten wir uns eine andere Strategie überlegen, um unseren Kampf fortzuführen. Also wandten wir uns den Gerichten zu.» Was so einfach klingt, erwies sich allerdings als grösseres Problem. Denn keiner der Angola 3 kannte sich in Rechtsfragen aus. Darüber hinaus standen ihnen keine Juristen zur Seite. Aber wie Robert King sagte: Gib mir Zitronen und ich mache daraus Limonade. «Wir mussten es uns selber beibringen, um andere darin zu unterrichten. Wir paukten Gesetzbücher, studierten, wie Gerichte funktionieren.»

Albert Woodfox erinnert sich, dass er oftmals vor vier, fünf, sechs offenen Büchern sass, um den roten Faden darin zu finden. Ein Buch sagte das eine aus, ein anderes das Gegenteil. In all den Texten versuchten die drei, Argumente für ihre Eingaben vor Gericht zu finden. «Das war auch ein Grund für unsere enge Freundschaft. Wir dachten gleich, wir hatten die gleichen Absichten, den gleichen Antrieb. Statt frustriert aufzugeben, behielten wir immer unser Ziel im Kopf: vor Gericht zu gewinnen. Wir verloren sehr viele juristische Einsprüche, aber die wenigen, die wir gewinnen konnten, veränderten einiges im Gefängnis.»

Die drei bildeten sich nicht nur selbst weiter, sondern wollten ihr Wissen auch weitergeben. Sie unterrichteten ihre Mitgefangenen – nicht nur in Jura, sondern auch in Geschichte, Geografie, Philosophie und Politik. Beim Schach- und Dominospiel, im Gefängnishof bei den Endlosspaziergängen im Kreis wurde geredet, debattiert, geschult. «Für mich war immer ausschlaggebend, was am besten für alle, nicht, was am besten für den Einzelnen ist. Das war und ist noch immer mein Grundprinzip. Das Ganze ist wichtiger als das Einzelne.» Albert Woodfox kommt immer wieder auf diesen Punkt zu sprechen. Er sieht sich nicht als Einzelkämpfer, nicht als etwas Besonderes, auch wenn sein Name immer wieder in Artikeln, Radio- und Fernsehbeiträgen auftaucht. So kann man auch seine Antwort auf die Frage verstehen, was für ihn die wichtigste Erfahrung in seinen langen Gefängnisjahren war: «Für mich war es, einem Mann das Lesen und Schreiben beizubringen. Denn wenn man jemandem das Lesen und Schreiben beibringt, dann öffnet man ihm die Welt.»

Der Kampf geht weiter

Mit 70 Jahren fängt für Albert Woodfox nun ein ganz neues Kapitel in seinem Leben an. Von einer erkämpften finanziellen Abfindung hat er sich sein Haus gekauft, kann davon leben. Täglich telefoniert er mit seinem engsten Freund Robert King, der nun in Austin, Texas, lebt. Er reist viel, auch nach Übersee, denn dort sind viele der Unterstützer der einstigen Angola 3 zu finden. Ihnen will er auch auf seiner kommenden Reise in mehrere europäische Länder für ihren Einsatz und ihr Durchhaltevermögen danken. Er sei heute ein glücklicher Mensch, sagt er. Nach einer kurzen Pause fügt er an, dass damit für ihn aber auch eine grosse Verantwortung verbunden sei. Er wolle und werde weiterkämpfen. Derzeit schreibt er an einer Autobiografie, ein Hollywoodstudio habe schon Interesse an der Verfilmung des Buches angemeldet.

«Was ich geschafft habe, habe ich in einer drei Mal zwei Meter grossen Zelle geschafft, also erzähl mir nicht, dass du dich nicht auch verändern kannst.»

Die Welt hat sich ihm geöffnet. Er ist stolz, dass er die Zeit hinter Gittern nicht nur überlebt hat, sondern zu dem Menschen geworden ist, der er heute ist. Ein kritischer, engagierter Mann, der noch immer für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus eintritt. Als Woodfox eingesperrt wurde, kam Amerika gerade aus dem blutigen Jahrzehnt der Bürgerrechtsbewegung, in Vietnam tobte ein brutaler Krieg. Nach fast 44 Jahren kam die Freiheit für ihn, doch der Kampf der Afroamerikaner auf den amerikanischen Strassen ging in all diesen Jahren unvermindert weiter. Ferguson und Oakland, Michael Brown und Trayvon Martin, Black Lives Matter und Trumps Wahlsieg. Eine harmlose Polizeikontrolle kann in den USA noch immer tödlich enden, gerade für Afroamerikaner. War der Kampf der Black Panther Party, war sein Kampf vergeblich? «Ich bin frustriert, das ja, aber ich fühle mich nicht besiegt. Ich glaube an den Wandel. Wenn ich nicht daran glauben könnte, dann würde ich nicht existieren. Ich bin das beste Beispiel für den Wandel. Was ich geschafft habe, habe ich in einer drei Mal zwei Meter grossen Zelle geschafft, also erzähl mir nicht, dass du dich nicht auch verändern kannst.»

Natürlich sei er wütend über das, was ihm angetan wurde, aber auch da könne er nur einen Satz von Robert King zitieren: Wenn du einen Mann in einem Haufen Mist vergräbst, dann wundere dich nicht, dass er stinkt, wenn er aufsteht. Der Wahlsieg von Donald Trump, den Albert Woodfox «unseren Adolf Hitler» nennt, war für ihn keine Niederlage, sondern ein Grund weiterzumachen. «Es ist einfach, mit einzelnen Rassisten umzugehen. Der institutionelle Rassismus hingegen unterstützt die einzelnen Rassisten. Der Einzelne kann also noch viel mehr Schaden anrichten, wenn er durch das System gestützt wird.» 

Mit dieser «gesunden Wut im Bauch gegen das System», wie er es beschreibt, wird er weitermachen. «Ich habe vier tolle Urenkel und ich kämpfe für den Tag, an dem sie irgendwohin gehen und das Erste, was die Leute sehen, ist nicht ihre Hautfarbe, ihre äusseren Merkmale, ihre Haarstruktur.» Ob er dieses Ziel je erreichen wird, dass weiss er selbst nicht so genau. Doch für Albert Woodfox ist der Weg das Ziel. Aufgeben kam für ihn nie in Frage. Nicht in mehr als 43 Jahren Isolationshaft und erst recht nicht in Freiheit, in seinem Haus in New Orleans. Der Kampf des Albert Woodfox geht weiter.