Ärzte und Ärztinnen gehören nicht zu den Berufsgruppen, die man in Lateinamerika häufig auf Demonstrationen antrifft. Doch in Bolivien gehen sie seit Dezember auf die Strasse. Grund ist ein neues Strafgesetz, das im Artikel 205 Behandlungsfehler oder Nachlässigkeit bei ärztlichen Eingriffen mit bis zu sechs Jahren Haft bestraft. «Menschen zu helfen, wird damit zum Risiko», begründet der Vorsitzende des Ärztegremiums, Aníbal Cruz, den Ausstand. Der Paragraph sei unklar und bestrafe jedes negative Resultat. «Ganz so als wären wir Verbrecher, die Leute umbringen wollen», ereifert sich die Allgemeinärztin Ruth Aguilera. Präsident Evo Morales bezeichnete die Proteste als illegal und Teil einer Verschwörung, drohte mit Entlassungen und Lohnkürzungen.
Der Protest weitete sich Ende Januar zu einem Flächenbrand aus. Es gesellten sich die Busfahrer dazu, denn auch sie können künftig bei Unfällen wegen Totschlags und Körperverletzung belangt werden. Ihnen schlossen sich die HändlerInnen an, aus Furcht wegen Steuerhinterziehung künftig hinter Gitter zu landen. In El Alto, einer einstigen Hochburg von Morales, die 2015 an einen oppositionellen Bürgermeister ging, protestieren Schülerinnen, Schüler und Lehrpersonen gegen die Vernachlässigung der Bildung. Medienschaffende demonstrierten gegen verschärfte Straftatbestände der Diffamierung und Beleidigung. Die Kirchen kritisierten den Artikel 88, der «die Anwerbung von Menschen zur Teilnahme an bewaffneten oder religiösen Gruppen» sanktioniert. Die oppositionellen Provinzen wie Santa Cruz riefen zu einem Ausstand auf. «Das wird jetzt ein Karneval der Proteste», spottete der Vizeminister für Soziale Bewegungen, Alfredo Rada, kurz bevor die Regierung Ende Januar das Gesetz wieder zurückzog und vom Senat annullieren liess – Morales’ bisher grösser politischer Rückschlag.
Daran trägt die Regierung freilich die Hauptschuld. Eine Debatte über Fahrlässigkeit und mehr Verantwortungsbewusstsein ist in Bolivien überfällig. Sie fand jedoch erst statt, nachdem das neue Strafgesetz verabschiedet worden war – und das ist symptomatisch für den politischen Zustand des Andenlandes. Nach zwölf Jahren bröckelt der Rückhalt für den ehemaligen Kokabauern Morales und seine linke «Bewegung zum Sozialismus» (MAS) – auch an der Basis. Statt auf die Kritik einzugehen, flüchtet die Regierung in immer autoritärere Praktiken.
Immer autoritärer
«Die Würfel sind gefallen, ich habe das neue Strafgesetz unterzeichnet, es werde angewendet! », hatte beispielsweise Vizepräsident Alvaro Garcia gesagt – ganz im Stile römischer Cäsaren. Diese Selbstherrlichkeit zeige, dass Dialoge und Debatten der Vergangenheit angehörten und Bolivien auf dem Weg in den Totalitarismus sei, kritisiert der Politologe Jorge Roberto Marquez. Und einen Teil der Verantwortung trage auch die Opposition, die weder im Parlament – wo sie freilich die Minderheit stellt – noch ausserhalb ihre Arbeit getan habe. Populismus und einen Hang zum Autoritarismus werfen Kritikerinnen und Kritiker Morales schon lange vor. Mit seiner Mischung aus Volkstümlichkeit, Charisma und Autoritarismus steht er in der Tat ganz in der Tradition der lateinamerikanischen Caudillos. Er bedient sich der klassischen Mittel des Populismus: Er stilisiert sich zum wahren Vertreter des Volkswillens gegenüber einer korrupten, rassistischen Elite, die das Land dem internationalen Finanzkapital in den Rachen werfe. Er versieht seine Klientel mit Posten und als Sozialhilfe getarnten Geldgeschenken – im Gegenzug für politische Loyalität. Oppositionelle wurden verfolgt und diffamiert. Dennoch gelang es dem 58-jährigen bislang – anders als seinem Vorbild Chávez –, durch eine pragmatische Wirtschaftspolitik die Geschäftsleute zu beschwichtigen und durch taktische Rückzüge, den Unmut rechtzeitig zu entschärfen.
Erlöser mit Schönheitsfehlern
Die Freund-Feind-Logik, mit der Morales das Land polarisiert, ist ein bewusstes Spiel mit dem Feuer. Laut Verfassung müsste er eigentlich 2019 einem Nachfolger Platz machen. Doch weil die MAS von der Lichtgestalt ihres Führers zusammengehalten wird und nicht von den Privilegien der Macht lassen will, soll es «Evo» noch einmal richten und eine «Machtübernahme. durch die feindlichen, neoliberalen Eliten verhindern». Das hört der eitle, indigene Staatschef gerne. Wem käme sie nicht zupass, die Rolle des Erlösers und Retters des Vaterlands?
Sie hat jedoch einen Schönheitsfehler: Das Volk hat in einem Plebiszit vor einem Jahr gegen eine erneute Kandidatur von Morales gestimmt. Wie schon Amtskollegen vor ihm in Venezuela, Nicaragua, Argentinien oder Honduras wusste Morales dieses «Hindernis» durch einen Richterspruch der von ihm kontrollierten Justiz ausser Kraft zu setzen. Während andere Machthabende ihr «Menschenrecht auf Wiederwahl » ins Feld führten oder wie Hugo Chávez in Venezuela einfach ein zweites Referendum zum gleichen Thema ansetzten, kamen Morales’ AnwältInnen mit internationalen Konventionen. Darin seien die Gründe aufgeführt, warum jemand nicht zu einer Wahl zugelassen werden dürfe. Die Tatsache, schon bald drei Legislaturperioden im Amt gewesen zu sein, gehöre nicht dazu.
Korrupt und patriarchal
Die Bilanz seiner bisherigen Amtszeit ist in vieler Hinsicht positiv: Die Armut sank von 63 auf 36 Prozent. Erstmals erreichten Gesundheitsund Alphabetisierungsprogramme auch die indigene Bevölkerungsmehrheit. Die Wirtschaft wuchs im Schnitt jährlich um fünf Prozent. Ein Gesetz zur Entschädigung der Diktaturopfer wurde verabschiedet, Haushaltshilfen hatten fortan Anspruch auf soziale Absicherung. In der Verfassung von 2009 wurde ein Anrecht auf Wasser und Strom verankert.
Weniger gut ist die Bilanz in Sachen Meinungsfreiheit und politische Rechte. Auf der Rangliste der Organisation Reporter ohne Grenzen ist Bolivien bei der Pressefreiheit auf dem 107. von 180 Plätzen – Tendenz fallend. UmweltschützerInnen bemängeln, dass Morales weiter auf die Ausbeutung der Bodenschätze setze und keinerlei Rücksicht auf Umweltbelange nehme. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisierte die Legalisierung der Kinderarbeit und Eingriffe in die Autonomie von NGOs inklusive ihrer Auflösung. «All diese Gesetze sind vage formuliert und ermöglichen Willkür und Zensur», so HRWAmerika- Direktor Jose-Miguel Vivanco. «Die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben, berechtigt eine Regierung nicht zur Verletzung von Menschenrechten oder von demokratischen Prinzipien wie der Gewaltenteilung.» Bolivien sei weiter korrupt, patriarchalisch und klientelistisch, die Justiz ineffektiv und politisiert, schrieben 180 Intellektuelle vor Kurzem in einer gemeinsamen Erklärung. Ein dritter Weg zwischen dem Neoliberalismus der bürgerlichen Vorgängerregierungen und dem aktuellen autoritären, korporativen Staat sei möglich. Wie dieser demokratische Rechtsstaat verwirklicht werden soll, liessen sie allerdings offen.
Sandra Weiss ist Politologin und freie Journalistin und lebt in Mexiko-Stadt.