«Der gute Populist»: Der demokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders wetterte gegen das Establishment und auch er verkaufte sich als «Mann des Volkes» – obwohl er seit Jahren in Washingtons Politzirkeln zu Hause war. © Lucas Jackson / Reuters
«Der gute Populist»: Der demokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders wetterte gegen das Establishment und auch er verkaufte sich als «Mann des Volkes» – obwohl er seit Jahren in Washingtons Politzirkeln zu Hause war. © Lucas Jackson / Reuters

MAGAZIN AMNESTY Populismus USA: Der Populismus ist tot. Es lebe der Populismus.

Von Lotta Suter. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2018.
Populismus ist in den USA kein Schimpfwort. Des Volkes Stimme meldet sich von links wie rechts und nicht selten aus einer «radikalen Mitte».

«Freunde, der Populismus ist wahrhaftig, offiziell, unleugbar tot», klagte die US-Journalistin Catherine Rampell Ende Jahr in der Washington Post. «Zeitpunkt des Ablebens: Samstag, 2. Dezember 2017, kurz vor 2 Uhr morgens. » Das ist der Moment, in dem der US-Senat der äusserst unpopulären Steuerreform zustimmte. Präsident Trump lobte den politischen Entschied und damit die massive Umverteilung von Kapital von unten nach oben, von Arm zu Reich, vom Volk zur wirtschaftlichen Elite.

Brot und Spiele

Man kann Donald Trumps Wandlung vom reaktionären volksnahen Kandidaten zum superreaktionären Neoliberalisten als Schlusspunkt der populistischen Bewegungen werten, die in den USA nach der grossen Wirtschaftskrise vor zehn Jahren entstanden sind. Ein Dämpfer für die Tea Party und ihre «Rebellion gegen die Eliten», die letztlich zur Wahl des Rechtspopulisten Trump geführt hat.

Das Volk, gemeint sind vorab die weissen heterosexuellen Christinnen und Christen, soll sich mit Brotkrumen und Schauspielen zufriedengeben.

Eine ernüchternde Niederlage auch für die Occupy Bewegung, die den überraschenden Achtungserfolg des linkspopulistischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders mitvorbereitete. Doch der Populismus ist in den USA nicht wirklich tot. Präsident Trumps Wirtschaftspolitik bevorzugt zwar die wenigen Superreichen. Doch er bedient seine Basis weiterhin mit rassistischen, sexistischen, nationalistischen, fremdenfeindlichen und anti-intellektuellen Stammtischsprüchen und Schikanen. Das Volk, gemeint sind vorab die weissen heterosexuellen Christinnen und Christen, soll sich mit Brotkrumen und Schauspielen zufriedengeben, während die Elite schamlos prasst. Diese Art Rechtspopulismus hat zurzeit auch ausserhalb der USA bedrohlich viel Zulauf.

Ein progressiver Populismus

Eher US-spezifisch ist das gegenwärtige Erstarken von linkspopulistischen Positionen. Es ist nach den letzten Wahlen nicht mehr zu übersehen, dass ein grosser Teil der US-Bevölkerung mehr will als die Wahl zwischen republikanischer und demokratischer Partei, zwischen Neoliberalismus und Neoliberalismus light. Es braucht eine fortschrittliche Politik, die klar und deutlich die Interessen des Volkes gegen die Spezialinteressen der Elite verteidigt. Und zwar die Interessen der gesamten Bevölkerung, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer sexuellen Orientierung. Die feministische US-Philosophin Nancy Fraser kommt in einem langen Essay über die Zukunft nach Trump zum Schluss: «Der progressive Populismus ist vielleicht bloss eine Übergangsstation auf dem Weg in eine neue post-kapitalistische Gesellschaft», schreibt sie in der Politzeitschrift American Affairs, «doch wenn wir diese Option nicht verfolgen, verlängern wir bloss das bestehende Interregnum.» Eine unheilvolle Zwischenzeit, in der die Leute immer ärmer und kränker, ungebildeter und unsolidarischer werden.

Warnen und beschleunigen

Diese Hoffnung auf einen fortschrittlichen Populismus speist sich unter anderem aus rund 130 Jahren Geschichte, in denen populistische Bewegungen, Parteien und Personen von links, rechts und aus der «radikalen Mitte» ein fester Bestandteil der US-amerikanischen Politik gewesen sind. «Populists» nannten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Erstes die Farmer im Westen, die sich gegen die Wirtschaftspolitik der Banken und Zulieferer an der Ostküste zur Wehr setzten. Die Bewegung war kurzlebig. Ein Teil ihrer Forderungen wurde von den etablierten Parteien aufgenommen. Bemerkenswert ist, dass diese frühen Linkspopulisten bereits Anstrengungen machten, auch Afroamerikaner und Frauen in ihre Reihen aufzunehmen.

Wenn die herrschenden politischen Werte und die Ängste, Hoffnungen und Sorgen eines breiten Teils der Bevölkerung nicht übereinstimmten, tauchten in den USA jeweils populistische Bewegungen auf.

Wenn die herrschenden politischen Werte und die Ängste, Hoffnungen und Sorgen eines breiten Teils der Bevölkerung  nicht übereinstimmten, tauchten in den USA jeweils populistische Bewegungen auf. Als frühe Warnung vor einer politischen Krise oder als Katalysator für die etablierte Politik.

Der «New Deal», die Wirtschafts- und Sozialreformen von Präsident Franklin Roosevelt in den 1930er Jahren, wurde von links angestossen. Die neokonservative Wende unter Präsident Ronald Reagan hatte 1980 Unterstützung von rechts. In den 1990er Jahren vertraten die Aussenseiterkandidaten Ross Perot, eher links, und Pat Buchanan, klar rechts, politische Positionen, die im zentristischen Zweiparteiensystem der USA keinen Platz fanden.

Es bedeutet eine Zuspitzung der Krise des US-amerikanischen Politsystems, dass im letzten Herbst ein bekennender Rechtspopulist die Präsidentenwahl gewann. Und dass der Linkspopulist Bernie Sanders heute als mit Abstand beliebtester Politiker der USA genannt wird.

Politik für das Volk

Nicht immer waren und sind populistische Gruppierungen in den USA klassisch links oder rechts einzuordnen. «Populismus ist keine Ideologie, sondern eine politische Logik – eine bestimmte Art, Politik zu denken», schreibt der Publizist und Philosoph John Judis in seinem 2016 erschienen Buch «The Populist Explosion», in dem er untersucht, wie die Wirtschaftskrise von 2008 die politische Landschaft in den USA und in Europa verändert hat. Und dann liefert der Autor trotzdem eine nützliche – und doch ideologische? – Unterscheidung: Der Linkspopulismus betreibt eine vertikale Politik, in der die unten und in der Mitte sich gegen die ganz oben wehren. Der Rechtspopulismus hingegen stellt das Volk gegen eine Elite, die er dann beschuldigt, eine dritte Gruppe zu verhätscheln und zu verwöhnen: zum Beispiel Immigrantinnen, Muslime oder Fürsorgeempfängerinnen. Der Linkspopulismus ist zweiteilig. Der Rechtspopulismus ist dreiteilig, er schaut nach oben, aber gleichzeitig auch herab auf eine «Outgroup», eine Fremdgruppe.

Die Schwäche des Populismus ist seine Anfälligkeit für Sündenbockpolitik.

Die Schwäche des Populismus ist seine Anfälligkeit für solche Sündenbockpolitik. Seine Stärke ist es, offene Konflikte und auch latente Spannungen nicht mit voreiligen Kompromissen zu übertünchen, sondern klar zu benennen. Aktuell ist das die Krise des Neoliberalismus und die Notwendigkeit einer politischen Alternative für das Volk. Für das ganze Volk.

 

«Wir sind das Volk»

Die Verfassung der USA beginnt nicht wie in der Schweiz mit den hehren Worten «Im Namen Gottes des Allmächtigen». In der amerikanischen Konstitution aus dem Jahr 1787 steht als Erstes selbstbewusst «Wir, das Volk». Allerdings einigten sich die dreizehn Gründerstaaten schnell darauf, dass bloss weisse Männer zu diesem Volk gehören und somit Bürgerrechte haben sollen. 1857 versuchte der Sklave Dred Scott gegen seinen Sklavenhalter zu prozessieren, um die Freiheit zu erlangen. Doch das Oberste Gericht entschied, ein «Neger» – selbst wenn er in den USA geboren ist – könne prinzipiell keine Rechte haben, «die ein Weisser respektieren muss». 1872 wurde die Frauenrechtlerin Susan Anthony wegen «krimineller Stimmabgabe » verurteilt und gebüsst. Erst im 20. Jahrhundert wurden die politischen Rechte allmählich auch auf Frauen, Afroamerikaner und auf die indigene Bevölkerung des Landes, die Native Americans, ausgedehnt. Doch bis heute versucht die politische Rechte in den USA, ethnische Minderheiten vom Wählen abzuhalten. Die elf Millionen Menschen, die als Sans Papiers in den USA leben, arbeiten und Steuern zahlen, besitzen gar keinerlei politische Rechte. Diese Kürzestgeschichte der USA illustriert zwei Punkte, die für ein Verständnis des US-amerikanischen Populismus wichtig sind. Erstens nimmt das Volk, das heisst die individuellen Bürgerinnen und Bürger, von jeher eine zentrale Rolle in der US-Politik ein, noch vor den Parteien, Institutionen und föderalistischen Strukturen. Und zweitens ist das «Volk» seit Gründung der USA eine unbeständige Grösse. In Politik, Kultur und Wirtschaft wird bis heute ausgehandelt, wer dazu gehört zu diesem Volk und wer nicht.

 

Lotta Suter lebt in Vermont (USA) und arbeitet als freie Korrespondentin und Buchautorin.