128 ältere Chinesinnen kämpfen dafür, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die Mütter von Tiananmen wollen, dass endlich aufgeklärt wird, was 1989 auf dem Tiananmen- Platz geschehen ist. Und sie wollen ihre während des Massakers getöteten Angehörigen endlich rehabilitiert sehen. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 beendete die chinesische Regierung mit Waffengewalt die Studierendenbewegung, die seit anderthalb Monaten das Herz Pekings besetzt hatte. Nach dem Vorbild der Madres de la Plaza de Mayo in Argentinien, die sich in den 1980er-Jahren gegen die argentinische Diktatur stellten, treffen sich die Tiananmen- Mütter öffentlich, mit dem Ziel, dass das Massaker nicht vergessen geht.
So auch Ding Zilin, eine kleine Dame, die heute über 80 Jahre alt ist. Die ehemalige Professorin für Philosophie an der Volksuniversität Peking ist zu einem Ärgernis für das Regime geworden. Sie war nicht begeistert, als ihr damals 17-jähriger Sohn nach Beginn der Demokratiebewegung im Frühjahr 1989 beim Ordnungsdienst am Gymnasium mitmachte, der die Schüler und Schülerinnen mit Essen und Trinken versorgte. Ihr Sohn war eines der ersten Opfer: Er wurde von einer Kugel in den Rücken getroffen und starb. Seine Eltern holten seine Überreste noch in der gleichen Nacht ab, bevor die Behörden den Krankenhäusern erlaubten, die Leichen zurückzugeben – im Austausch für eine Sterbeurkunde, die das Datum und die Todesursache wegliess. Vom Tod ihres Sohnes erholte sich Ding Zilin nie; sie versuchte sechs Mal, sich das Leben zu nehmen.
«Kleine Drängeleien»
Seit dem Massaker wird das Offensichtliche geleugnet. Der General und damalige Stabschef Chi Haotian behauptete, dass «auf dem Platz des Himmlischen Friedens kein einziger Mensch sein Leben verloren hat», und fügte hinzu: «In der Umgebung kam es lediglich zu kleinen Drängeleien.» Aufgrund seiner «Verdienste» wurde er später zum Verteidigungsminister befördert. Auch jetzt, dreissig Jahre danach, bleibt die offizielle Version unverändert. Für die «Global Times», die staatliche Tageszeitung, «ist der 4. Juni ein ganz normaler Tag. Das jährliche Getue um den Vorfall ist nur eine Blase, die platzen wird.» Dieses Getue gibt es nur im Ausland, denn in China wird jede Erwähnung des 4. Juni in der Presse, in der Schule oder im Internet geahndet und ist faktisch unmöglich – ausser eben für die Mütter von Tiananmen.
Seit 1989 stehen Ding Zilin und ihr Mann unter ständiger Beobachtung.
Dieser Realitätsverweigerung wollte Ding Zilin im September 1989 gemeinsam mit Zhang Xianling etwas entgegensetzen. Letztere hat ihren Sohn verloren, der getötet wurde, als er Fotos von der «Reinigung» des Platzes machte. Bald schloss sich Xu Jue, ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften, der Bewegung an. Ihr verwundeter Sohn starb in einem Krankenhaus, nachdem ihm auf militärischen Befehl hin keine Bluttransfusion gegeben wurde. Gemeinsam versuchten die Mütter, die Familien weiterer Opfer zu finden und ihre Namen zu veröffentlichen. Nicht ohne Schwierigkeiten, denn das Regime übte weiterhin Druck aus. Seit 1989 stehen Ding Zilin und ihr Mann unter ständiger Beobachtung. Die Beschwerde, die Ding Zilin gegen den damaligen Premierminister Li Peng einreichte, dem sie die Verantwortung für Hunderte von Todesfällen zuschreibt, führte dazu, dass sie von der Universität und von der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde; mehrmals wurde sie unter Bewachung aus Peking vertrieben.
Die Geister des 4. Juni
Ähnliche Belästigungen erleben die anderen Mütter, die sich davon aber nicht entmutigen lassen. Trotz Telefonüberwachung wagen sie es, ausländische Medienanfragen zu beantworten und mit exilierten chinesischen DemokratInnen zu telefonieren. Seit 1996 richten sie jedes Jahr einen offenen Brief an die Nationalversammlung, in welchem sie eine öffentliche Untersuchung der Repression verlangen wie auch das Recht, in der Öffentlichkeit der Toten zu gedenken. Ausserdem sollen die Verantwortlichen verurteilt werden und die Ereignisse Eingang in die Geschichtsbücher finden. Im vergangenen Jahr zitierten die Mütter in ihrem offenen Brief den Staatspräsidenten Xi Jinping mit seinen eigenen Worten: «Am Ende unseres Lebens hoffen wir, die Rehabilitierung unserer Lieben vor unserem Tod zu erleben. Wir fordern Wahrheit, Verantwortlichkeit und Entschädigung für die Familien der Opfer.» Viele dieser Forderungen an die Behörden sind auf ihrer Website veröffentlicht und natürlich in China zensiert – aber in anderen Teilen der Welt sind sie zugänglich. Peking gefiel es gar nicht, als die Welt erfuhr, dass der 1993 kurzzeitig entlassene Dissident Wei Jingsheng seinen ersten Besuch Ding Zilin abgestattet hatte. Im Jahr 2010 war es der Schriftsteller Liu Xiaobo, der in einer Botschaft, die er aus dem Gefängnis nach Stockholm schickte, seinen Friedensnobelpreis Ding Zilin und den «Geistern des 4. Juni» widmete.
30 Jahre Tiananmen-Massaker
Vor 30 Jahren sind Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Demonstrierende ums Leben gekommen, als die chinesische Regierung den friedlichen Protest brutal niederschlug.
Hunderttausende Chinesen und Chinesinnen, allen voran Studierende, lehnten sich 1989 gegen die kommunistische Diktatur auf. Sie besetzten den Tiananmen-Platz in Peking und forderten Freiheit und Demokratie. Am 3. und 4. Juni 1989 löste die Armee die studentischen Proteste gewaltsam auf. Das berühmte Foto vom «Tank Man» ist seither zum Symbolbild für das damalige Massaker geworden: Ein Mann, zwei Einkaufstüten in der Hand, steht am 4. Juni 1989 allein auf dem Platz vor einer anrollenden Panzerkolonne. Er hebt die Hand, und für einen kurzen Moment stoppen die Panzer. Der Mann wurde schliesslich von anderen Demonstrierenden weggezogen. Ob und wie viele Menschen auf dem Tiananmen-Platz selbst getötet wurden, ist bis heute ungeklärt. In anderen Teilen der Stadt seien gemäss einem Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 1990 zwischen mehreren Hundert und mehreren Tausend Menschen umgekommen. Presseberichte, die sich auf Quellen im chinesischen Roten Kreuz beriefen, nannten 2600 Tote unter den Aufständischen und dem Militär und rund 7000 Verletzte im Laufe der Woche in ganz Peking.
Die Regierung hat bis heute keine Verantwortung für die während des Militäreinsatzes begangenen Menschenrechtsverletzungen übernommen, und es wurde keiner der damals Verantwortlichen je zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: Die chinesischen Behörden zensieren weiterhin systematisch jede Bezugnahme auf das Vorgehen des Militärs und schikanieren, unterdrücken und verfolgen Personen strafrechtlich, die der Opfer der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz gedenken.
In den Wochen vor dem 30. Jahrestag der Niederschlagung der Tiananmen- Proteste haben chinesische Behörden Dutzende AktivistInnen bedroht, inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt, um ein öffentliches Gedenken zu verhindern. So wurde unter anderem auch Ding Zilin wieder dazu gezwungen, Peking zu verlassen und in ihre mehr als 1100 Kilometer entfernte Heimatstadt zu reisen. (mre)