Wo noch vor Kurzem die HändlerInnen ihre Waren ausgerufen haben, wo Damen mit Kopftuch wählerisch von Stand zu Stand gezogen sind, um sich Seidenschals oder Mäntel aus Yakwolle auszusuchen, und wo die Wirte von Garküchen ihre Lammspiesse auf dem offenen Grill gebraten haben, herrscht heute weitgehend Grabesstille.
Die Polizisten haben es auf alle abgesehen, die auch nur vage muslimisch wirken.
Nur wenn Gruppen von Uniformierten durch die mehr als 2000 Jahre alte Altstadt von Kashgar patrouillieren, wird es laut. «Sicherheitstruppe» steht auf den Armbinden der zumeist jungen, mit Gewehren bewaffneten Männer; ihre Abzeichen weisen sie als Mitglieder der Polizei aus. Fast alle von ihnen sind ethnische Chinesen, nur wenige Uiguren. Die Polizisten haben es auf alle abgesehen, die auch nur vage muslimisch wirken. Vor allem Männer mit Bärten müssen alle paar Meter ihren Ausweis vorzeigen. Die Polizisten durchwühlen ihre Taschen und tasten sie ab. Denn in der ganzen Region im Nordwesten Chinas gelten Sondervollmachten, seitdem im März 2017 die Verordnung zur Entradikalisierung in Kraft trat, die öffentliche und private Zurschaustellung einer religiösen oder kulturellen Zugehörigkeit als extremistisch einstuft. Das Tragen eines Schleiers oder eines Kopftuchs sowie regelmässige Gebete oder der Besitz von Büchern über den Islam oder die uigurische Kultur reichen bereits aus.
Allgegenwärtige Polizeipräsenz
Deshalb ist nicht nur in Kashgar, sondern auch in den anderen Städten Xinjiangs die Polizei allgegenwärtig. Ob in Aksu, Turfan, Hami oder in der Provinzhauptstadt Urumqi – alle paar Hundert Meter hat das Militär Kontrollpunkte errichtet. Panzerfahrzeuge rollen auf den Strassen.
Die Behörden geben Journalisten zu verstehen, sie mögen verschwinden.
Ausländische Medienschaffende sind in der Provinz Xinjiang nicht willkommen. Das geht nicht so sehr von den UigurInnen aus. Sie beobachten die Fremden interessiert, trauen sich aber nicht, sie anzusprechen. Schnell würden sie auf einer schwarzen Liste der Regierung landen, berichtet ein Uigure, der sich Ahmed nennt und doch redet. Wer auf dieser Liste stehe, erhalte Besuch von der Militärpolizei, erzählt er – oder werde gleich festgenommen. Die Behörden geben JournalistInnen zu verstehen, sie mögen verschwinden. Eine halbe Stunde nach dem Check-in in einem Hotel erscheinen Beamte der Staatssicherheit und fragen, was man hier zu suchen habe.
Peking glaubt, sich das leisten zu können. Xinjiang ist flächenmässig 40 Mal so gross wie die Schweiz, zählt aber gerade mal rund 20 Millionen EinwohnerInnen – für chinesische Verhältnisse ist das wenig. Xinjiang war lange Zeit mehrheitlich von UigurInnen bewohnt, einem turksprachigen Volk muslimischen Glaubens in Zentralasien. Doch inzwischen bilden zugezogene Han-ChinesInnen die Mehrheit in der Provinz. Und das ist auch Kern des Konflikts: Von den uigurischen Menschen werden sie als Besatzer wahrgenommen, die sie zur Minderheit auf eigenem Boden machen.
Die in Xinjiang lebenden Han-ChinesInnen wiederum sehen in den UigurInnen eine vom Separatismus durchsetzte, rückständige Minderheit, die sich jeder Entwicklung verweigert. Als «kulturlos» bezeichnet ein junger Han-chinesischer Taxifahrer in der Provinzhauptstadt Urumqi die UigurInnen. Nur ihre Lammspiesse – die seien lecker.
Xinjiang müsse wirtschaftlich entwickelt werden, lautete in den vergangenen Jahren das Rezept der Zentralregierung in Peking, um die Unruheprovinz zu befrieden. In Chinas Plänen für eine Wiederbelebung der Seidenstrasse soll Xinjiang eine zentrale Rolle spielen.
Dass sich viele UigurInnen im Zuge der Diskriminierung durch die Zentralbehörden radikalisiert haben, ist unbestritten. Tatsächlich gab es Anschläge wie den von 2014 etwa, als uigurische Angreifer in der Stadt Kunming 31 Menschen erstachen. Ein Jahr zuvor raste eine uigurische Familie mit einem Geländewagen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking in eine Menge; mehrere Menschen kamen ums Leben. Die chinesische Führung will deshalb sogar eine Verbindung zwischen uigurischen SeparatistInnen und dem globalen Dschihad ausgemacht haben. 2016 übergab ein ISÜberläufer der US-Regierung eine Liste ausländischer Rekruten, 114 davon kamen aus Xinjiang. Anlass genug für die Führung der Kommunistischen Partei, die systematische Unterdrückung Hunderttausender UigurInnen auszuweiten.
Gehirnwäsche und Folter
«Die Massenhaftzentren sind Orte der Gehirnwäsche, Folter und Bestrafung.»Nicholas Bequelin, Ostasien-Experte bei Amnesty International
Auch wenn genaue Zahlen nicht bekannt sind, geht Amnesty International davon aus, dass die chinesischen Behörden seit 2018 bis zu einer Million UigurInnen in Internierungs- und Umerziehungslager eingewiesen haben. Ein lokaler Sicherheitschef bestätigte, dass zeitweise «ungefähr 120 000» Menschen in der Stadt «interniert» gewesen seien. «Die Massenhaftzentren sind Orte der Gehirnwäsche, Folter und Bestrafung», sagt Nicholas Bequelin, Ostasien-Experte bei Amnesty International. «Eine Textnachricht an Familienangehörige im Ausland kann zur Inhaftierung führen. Das zeigt, wie grotesk, ungerechtfertigt und absolut willkürlich das Vorgehen der chinesischen Behörden ist.»
Offiziell bestreitet die chinesische Regierung die Existenz der Umerziehungslager, doch inzwischen liegen Dutzende Zeugenaussagen von Familienangehörigen vor, die diese bestätigen. Ein entlassener Häftling etwa berichtete, er habe so lange nichts zu essen bekommen, bis er sich bei Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping bedankt habe. Die Häftlinge müssten mehrstündige Unterrichtseinheiten über sich ergehen lassen. Wer ideologisch falsch antworte, müsse stundenlang an einer Wand stehen. Auch über Isolationshaft und schwere Folterungen wird berichtet.
Gründe für eine Inhaftierung können religiöse Ansichten sein, Unkenntnis der chinesischen Nationalhymne oder Fragen nach dem Verbleib vermisster Angehöriger. Umerziehungslager unterliegen nicht dem geltenden Recht. Die Festnahmen gehen ganz allein auf Befehle der KP-Funktionäre zurück. China hatte die Lager 2015 offiziell für abgeschafft erklärt. In Xinjiang heisst es nun aber: Ideologische Veränderungen seien nötig, um gegen Separatismus und islamischen Extremismus vorgehen zu können.
Die schlagen sich auch ausserhalb Kashgars nieder. Vom Stadtrand schlängelt sich der berühmte Karakorum-Highway das Pamirgebirge hinauf zum Tashkurgan-Pass, dem mit 4600 Metern höchstgelegenen Grenzübergang der Welt. Diese Autobahn soll Xinjiang mit Pakistan und Kirgisistan verbinden und einen Transportweg bis nach Europa schaffen – ein zentraler Bestandteil der Neuen Seidenstrasse, in den Hunderte Milliarden Dollar investiert werden.
Auf chinesischer Seite ist auch schon alles fertiggestellt. Und doch ist auch diese Strasse weitgehend leer. Schon 50 Kilometer hinter Kashgar steht eine Polizeikontrolle. Eine Weiterfahrt sei nicht möglich, heisst es seitens der Sicherheitsbeamten. Die Terrorgefahr in dem Gebiet sei zu gross.