Mit grossen goldenen Ohrringen und weissem Gewand steht die junge Frau auf dem Dach eines Autos und feuert die Massen vor ihr an. Sie rezitiert mit lauter Stimme ein sudanesisches Gedicht. «Wir werden nicht schweigen im Angesicht des Tyrannen», heisst es darin, Tausende Stimmen antworten mit «Thawra!» – arabisch für Revolution. Ein Foto dieser Szene, die sich im April 2019 in Khartum abspielte, ist seitdem um die Welt gegangen und hat die Aktivistin Alaa Salah zur Ikone der sudanesischen Revolution gemacht – insbesondere der Frauen, die sich nicht nur ihre politische Freiheit, sondern auch einen Platz im öffentlichen Raum zurückerobert haben. Seit September 2019 herrscht nun eine Übergangsregierung, bestehend zur Hälfte aus Militärangehörigen und zur anderen aus Vertretern und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft. Welche Rolle die sudanesischen Frauen nach der Revolution in Politik und Gesellschaft spielen werden, wird sich in dieser Übergangsphase zeigen.
Leere Bankomaten
Als die Proteste begannen, studierte Alaa Salah Architektur an einer Privatuniversität in Khartum. Die ersten Demonstrierenden gingen im Dezember 2018 auf die Strasse, nachdem Sudans langjähriger Diktator Omar al-Baschir drastische Sparmassnahmen angekündigt hatte. Damit brachte er ein Fass zum Überlaufen, das schon seit Jahren randvoll gewesen war. «Es gab Krisen ohne Ende im Sudan, sei es wegen Wohnraum, im Gesundheits- oder im Bildungssystem», sagt Salah bei einem Besuch in Berlin im Februar. «Allein um ihren Alltag zu bewältigen – an Essen zu kommen und an Benzin, einen Geldautomaten zu finden, der nicht leer war –, mussten Sudanesinnen und Sudanesen oft weite Wege zurücklegen.» Die Probleme seien in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, verschärft durch die massive Unterdrückung jeglicher politisch oppositioneller Aktivität.
«Jedes Mal, wenn wir auf eine Demonstration gingen, wussten wir nicht, ob wir danach nach Hause zurückkehren würden.» Alaa Salah
Von Anfang an ging Salah mit auf die Strasse. Später brach sie sogar ihr Studium ab, da die Universität trotz der Massenproteste Seminare und Klausuren wie üblich durchführte. Das liess sich schlecht vereinbaren mit der neuen Tagesplanung ihrer Studierenden: «Jeden Donnerstag um 13 Uhr starteten die Demonstrationszüge im ganzen Sudan», erinnert sich Salah. Die 23-jährige Studentin redet schnell, als wolle sie alle Erfahrungen und Erinnerungen der Revolution in kürzester Zeit an so viele Menschen wie möglich weitergeben. Später habe sie jeden Abend online nachgeschaut, wo am nächsten Tag eine Kundgebung starten würde und was die geplante Route war. Ausserdem hätten sie und ihre MitstreiterInnen sich darüber informiert, wie sie sich selbst schützen konnten, um auf dem Weg dorthin nicht festgenommen zu werden und danach wieder sicher nach Hause zu kommen. «Jedes Mal, wenn wir auf eine Demonstration gingen, wussten wir nicht, ob wir danach nach Hause zurückkehren würden. Viele, die mit uns protestiert haben, sind heute tot.»
Frauen in der Hauptrolle
Vor allem die sudanesischen Frauen erhielten internationale Aufmerksamkeit für ihren mutigen Einsatz bei den Protesten. Denn immerhin war ihre Rolle in der sudanesischen Gesellschaft bis dahin von Gesetzen geprägt, die sie aus dem öffentlichen Raum verdrängten und ihre Freiheit beschnitten. Auch in Salahs wichtigsten Erinnerungen an die Revolutionstage spielen Frauen die Hauptrolle. Sie hätten, ob jung oder alt, die Proteste unterstützt. Ältere Frauen hätten Wasser verteilt oder die Türen zu ihren Häusern für die flüchtenden DemonstrantInnen geöffnet, wenn die Polizei kam. «Als es auf einer der Demos gefährlich wurde, riefen die Männer: ‹Alle Frauen sollen nach hinten gehen!›», erinnert sich Salah. «Wir aber sagten: Nein, die Frauen stehen ganz vorne! Wenn etwas passiert, dann passiert es uns allen. Schliesslich sind wir gemeinsam losgegangen.»
Vier Ministerinnen
Sie sind gemeinsam losgegangen, aber in den politischen Ämtern sind Frauen nach wie vor nicht gleichberechtigt angekommen. Zwar hat sich die Lage der Frauen im Sudan seit der Revolution verbessert. Unter anderem wurde im November das sogenannte Gesetz zur öffentlichen Ordnung abgeschafft, das das Verhalten von Frauen in der Öffentlichkeit, einschliesslich ihrer Bekleidung, stark einschränkte. Bei Verstössen drohten Peitschenhiebe. Aber in der Übergangsregierung von Premierminister Abdallah Hamdok gibt es gerade einmal vier Ministerinnen – das entspricht nur einem Fünftel des Kabinetts. Als die Gestaltung der Übergangsregierung verhandelt wurde, hatten Frauenrechtsorganisationen gefordert, dass fünfzig Prozent der Positionen mit Frauen besetzt werden, jedoch ohne Erfolg. Heute engagiert sich Alaa Salah bei Mansam, einer Allianz der zivilgesellschaftlichen und politischen Frauengruppen Sudans, die weiterhin für die Präsenz der Frauen in der Regierung und ihre gesellschaftlichen Rechte kämpft.
«Es gibt nichts Wichtigeres als Frauenrechte», glaubt Alaa Salah. Sie gehörten zu den grundlegendsten Faktoren für einen Wandel, auch wenn sie immer nach hinten geschoben würden. «Dabei müssen sie ganz vorne stehen, denn wo Frauen sind, dort ist auch Frieden. Wenn Frauenrechte durchgesetzt werden, hat das einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft.» Wie die Rolle der Frauen in der Revolution wahrgenommen wurde, zeigt auch das Foto von Alaa Salah. Als «Kandake» wurde sie bezeichnet: So hiessen die nubischen Königinnen im vorchristlichen Reich Kusch im heutigen Sudan. Sie waren Anführerinnen und Kämpferinnen. Alaa Salah hat sich inzwischen in ihre Rolle als Botschafterin des politischen Wandels im Sudan eingelebt. Seit ihr Foto berühmt wurde, hat sie zahlreiche Interviews gegeben. Im vergangenen Oktober sprach sie als Vertreterin der sudanesischen Zivilgesellschaft vor dem Uno-Sicherheitsrat.
Diskutieren statt schiessen
Vor der Uno betonte sie, wie wichtig es sei, dass die Verantwortlichen des alten Regimes zur Rechenschaft gezogen werden. Gegen Omar al-Baschir, der das Land nach einem Militärputsch dreissig Jahre lang mit harter Hand regierte, wurde schon 2009 ein internationaler Haftbefehl verhängt. Ihm werden Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Kriegs in Darfur vorgeworfen. Nun kommt noch die Gewalt gegen die Demonstrierenden hinzu. Dafür müsse er vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden, glaubt Salah. Ob das passieren wird oder ob er vor ein nationales Gericht gestellt werden soll, diskutiert die neue Führung im Sudan zurzeit noch. Bis dahin bleibt der Ex-Diktator in Khartum inhaftiert.
Für Alaa Salah hat sich viel verändert seit der Revolution. «Als das Foto erschien, erhielt ich eine sehr grosse Verantwortung, die Stimme des Volkes, der Revolution, der Strasse an die Welt weiterzugeben », sagt sie. Das sei eine Herausforderung, der sie sich gewachsen fühle. «Ich hoffe, dass unsere Erfahrung auch vielen anderen Ländern Hoffnung geben kann, die immer noch unter diktatorischen Regimes leiden.» Im Sudan könne man inzwischen endlich offen sagen, was man denke. «Wo wir früher mit Schüssen, Tränengas und Festnahmen empfangen wurden, kommt jetzt der Minister oder die Ministerin persönlich und diskutiert mit uns über unsere Forderungen. Nicht alles wird verwirklicht, aber wir werden gehört.»