AMNESTY: Der Stabwechsel erfolgte mitten in der Corona-Krise – war das eine gute Idee?
Manon Schick: Der Vorstand hat Alexandra Karle Anfang Jahr gewählt und den Wechsel schon vor Beginn der Krise auf Anfang Juni vereinbart. Ich muss zugeben: Mit einer externen Person wäre das wohl schwierig geworden. Aber die beste Kandidatin war eine Interne, die bereits Mitglied der Geschäftsleitung war. Deshalb habe ich keine Zweifel daran, dass dieser Übergang gut verläuft, auch mitten in einer Gesundheits- und Menschenrechtskrise.
Alexandra Karle: Wir hätten uns wohl beide eine entspanntere Situation gewünscht. Es ist natürlich schöner, wenn man sich in einer solchen Übergangszeit persönlich sieht. Aber ich hatte ja schon Einblick in die Geschäfte und bin auch international gut eingebunden. Als Kommunikationsleiterin habe ich auch viel mit den Themen Corona-Krise und Menschenrechte zu tun gehabt.
Manon Schick, wie hat sich die Lage der Menschenrechte während Ihrer Amtszeit entwickelt?
M.S.: Auf weltweiter Ebene hat sich die Situation leider nicht verbessert. Der wachsende Populismus ist sehr besorgniserregend. Demokratisch gewählte Regierungschefs äussern in aller Öffentlichkeit Sätze wie: «Man sollte die Ärmsten erschiessen», oder «Wir wollen keine Migranten in unserem Land.» Ich denke an Trump in den USA, Orbán in Ungarn oder Duterte in den Philippinen. In der Schweiz existieren diese populistischen Strömungen ja auch, zum Teil sind sie stark. Aber es gelingt, ihre Auswirkungen zu begrenzen. So hat vergangenes Jahr die Stimmbevölkerung die «Fremde Richter»-Initiative verworfen, die die Menschenrechte ganz direkt angriff. Und auch weltweit gibt es Anlass zur Hoffnung, etwa aufgrund der vielen Bewegungen in der Zivilgesellschaft, die lautstark gegen Unrecht protestieren.
Wie motivieren Sie sich jeden Tag für die manchmal schwierige Menschenrechtsarbeit?
M.S.: Es ist eine enorme Chance, in einer solchen Position zu arbeiten. Man kann agieren, muss nicht nur stumm zuschauen. Natürlich gab es Rückschläge und unglaublich traurige Augenblicke. Aber es gab auch viele glückliche Momente, wenn wir erleben, wie die Rechte von Menschen gestärkt werden. Die Rechte von Homosexuellen wurden aus gebaut, Jugendliche haben sich gegen den Klimawandel mobilisiert, es gab den Frauenstreik: Das sind alles sehr motivierende Momente.
A.K.: Ich war früher als Journalistin tätig und berichtete unter anderem aus Kriegs- und Krisenregionen. Jetzt kann ich aktiv mithelfen, die Welt zum Besseren zu verändern. Ich bin eine unglaubliche Optimistin, ohne dass ich die Augen verschliessen würde vor all den Herausforderungen. Aber die vielen kleinen Erfolge, die wir erzielen, motivieren mich: wenn beispielsweise Menschen aus dem Gefängnis entlassen oder nicht mehr gerichtlich verfolgt werden. Auch während der Corona-Krise zeigt sich etwa bei der Nachbarschaftshilfe, wie viele Menschen Mitgefühl haben. In der Krise wird auch das Gute sichtbar.
Alexandra Karle, welche Schwerpunkte wollen Sie setzen?
A.K.: Zuerst wollen wir möglichst unbeschadet durch die Krise kommen. Ich bin aber begeistert davon, wie engagiert die Mitarbeitenden und die aktiven Mitglieder auch während des Lockdowns waren. Diese Krise bringt uns, so seltsam das klingt, in gewissen Punkten auch vorwärts, zum Beispiel beim digitalen Aktivismus. Die Herausforderung für Amnesty International wird sein, mehr Leute, junge Leute, für die Menschenrechte zu begeistern, vielleicht auch online. Und gleichzeitig wollen wir, dass die langjährigen Aktivistinnen und Aktivisten bei uns bleiben. Ich plane keinen abrupten Richtungswechsel. Auf internationaler und nationaler Ebene ist es wie alle fünf Jahre an der Zeit, eine neue Strategie zu entwickeln. Wir werden sicherlich neue Themen einbeziehen wie die Klimakrise oder neue Technologien.
In welchen Punkten ist die Organisation stark, wo muss sie sich noch verbessern?
M.S.: Amnesty International ist weltweit die grösste Menschenrechtsorganisation. Sie befindet sich nun, mit der Corona-Krise, in einer einschneidenden Phase, denn die wirtschaftliche Krise wird auch uns betreffen. Amnesty Schweiz ist eine starke Sektion, die in den letzten Jahren noch gewachsen ist. Sie wurde zu einer wichtigen Partnerin für die weltweite Amnesty-Bewegung: Wir gehören zu den sechs grössten Beitragszahlern. Unsere Stimme wird gehört, Mitglieder der Geschäftsleitung und des Vorstands waren wiederholt Teil von internationalen Gremien. Aber es geht uns nur gut, wenn es der weltweiten Bewegung auch gut geht. Unsere kleinen Sektionen in Togo, Burkina Faso oder Uruguay müssen die aktuelle Krise überstehen können. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Büros in Indien geschlossen werden, weil die Regierung gegen die Menschenrechte eingestellt ist.
A.K.: Wir wollen natürlich, dass sich die Menschen auch weiterhin mit Amnesty International für ihre Rechte einsetzen. Ich finde es deshalb sehr wichtig, mit Grassroot-Bewegungen zusammenzuarbeiten. Sie kennen die Situation vor Ort oft am besten. Amnesty selbst hat in den vergangenen Jahren den Prozess «Moving Closer to the Ground» vollzogen und ist nun mit Regionalbüros an vielen Orten der Welt vertreten. Das bringt sehr viele Vorteile mit sich – wir können schneller reagieren und senden nicht mehr einfach nur aus Europa Botschaften in die Welt. Aber es birgt natürlich auch manche Gefahren, zum Beispiel in der Türkei, wo unsere Leute in grosse Bedrängnis geraten sind.
Kann Amnesty wirklich etwas ausrichten auf der Welt?
A.K.: Wenn nicht, würden wir bestimmt nicht hier sitzen! Wenn ich auch nur eine Sekunde daran zweifeln würde, könnte ich diese Arbeit nicht machen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir etwas bewirken, in der Schweiz, aber auch weltweit. Auch wenn wir nur immer wieder daran erinnern, wie wichtig Menschenrechte und ihre Sicherung sind. Diese Systeme werden ja auch angegriffen. Wir wollen aber nicht nur eine mahnende Stimme sein, sondern Lösungen aufzeigen. Ich finde, auch da hat sich Amnesty sehr entwickelt.
Können Sie Beispiele nennen, wo Amnesty viel bewegt hat?
M.S.: Der Waffenkontrollvertrag (ATT) zeigt, dass der Einsatz für die Menschenrechte ein sehr langfristiger Kampf ist. Ein Kollege im Internationalen Sekretariat in London, Brian Wood, hatte vor fast 30 Jahren die Idee eines Kontrollvertrags für den Waffenhandel. Gegen alle Widerstände hat Amnesty gemeinsam mit anderen Organisationen dieses Vorhaben vorangetrieben, und die Uno hat schliesslich ein solches Abkommen angenommen. Amnesty kann die Welt also auf globaler Ebene beeinflussen, aber auch das Leben einer einzelnen Person.
A.K.: Ein anderes Beispiel sind die Frauenrechte. In Irland hat sich die Amnesty- Sektion jahrelang dafür eingesetzt, dass Frauen Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch erhalten, und das ist nun eingetreten. In der Schweiz haben wir vergangenes Jahr mit einer Umfrage erhoben, wie viele Frauen von sexueller Gewalt betroffen waren. Die Umfrage wurde breit diskutiert, und hoffentlich wird nun auch das Sexualstrafrecht angepasst. Wir können gesellschaftliche Diskussionen anstossen.
Manon Schick, haben Sie einen Rat für Alexandra Karle?
M.S.: Geduld! (beide lachen) Ich selbst musste lernen, geduldiger zu sein. Ich weiss, dass Alexandra hartnäckig, leidenschaftlich und kompetent ist – aber wenn man sich für die Menschenrechte einsetzt, braucht es auch Geduld. Wir wollen stets, dass die Dinge schneller vorangehen, als sie es tun. Ein Beispiel dafür ist die Konzernverantwortungsinitiative. Als ich Geschäftsleiterin wurde, sprach man schon davon; es gab eine Petition, dann die Initiative, wir sollten vor etwa drei Jahren darüber abgestimmt haben.
Und was machen Sie selbst jetzt beruflich?
M.S.: Zuerst mache ich Ferien – wenn das trotz der Pandemie möglich ist. Ich habe vor, in der Schweiz in die Berge zu fahren. Dann werde ich überlegen, wie es weitergeht. Ich bin jetzt etwa in der Hälfte meines Berufslebens und will herausfinden, was ich noch tun möchte. Wieso nicht in den Bereich zurückkehren, aus dem ich ursprünglich gekommen bin: Journalismus und Kommunikation. Im Moment befinden wir uns natürlich in einer Krisenzeit, wir werden sehen. Ich habe bei Amnesty Kompetenzen erworben, die ich vorher nicht hatte: ein Team führen, Leute motivieren, eine Richtung vorgeben. Das kann ich auch in einem anderen Rahmen verwenden.
Sie sind beide ursprünglich Journalistinnen. Zufall?
M.S.: Auch mein Vorgänger, Daniel Bolomey, war zuerst Pressesprecher, dann Kommunikationsverantwortlicher. Amnesty ist eine Organisation, die eine Botschaft vermitteln und die Welt via Kommunikation verändern will. Wir bauen keine Schulen oder Brunnen in Entwicklungsländern. Dafür braucht es eher Ingenieurinnen oder Manager. Wer im Journalismus oder in der Kommunikation gearbeitet hat, verfügt über Kompetenzen, die bei Amnesty besonders nützlich sind. Man muss debattieren und überzeugen können.
A.K.: Zur Kommunikation gehört ja auch, dass man gut zuhört, Empathie hat und auf Situationen eingehen kann. Diese sogenannten Soft Skills sind immer stärker gefragt.
Was möchten Sie den Amnesty-UnterstützerInnen sagen?
M.S.: Bleibt uns treu!
A.K.: Ich wollte genau das Gleiche sagen!
M.S.: Wir haben grosses Glück bei Amnesty, dass wir auf so treue Unterstützer und Aktivistinnen zählen dürfen. Manche Leute begleiten uns seit Jahrzehnten; für sie ist Amnesty ein Teil ihres Lebens geworden. Sie geben uns Zeit, Geld oder ihre Leidenschaft. Amnesty wäre nichts ohne diese Menschen.
A.K.: Ich bin sehr beeindruckt davon, mit welch riesigem Engagement die Aktivisten und Aktivistinnen ehrenamtlich tätig sind. Ich kenne viele von ihnen in der Deutschschweiz. In der Romandie oder im Tessin will ich sie noch besser kennenlernen. Es ist toll, dass sich so viele Menschen mit Amnesty für die Menschenrechte einsetzen. Darauf können wir stolz sein.