AMNESTY: Wie konnte ein Land, das selbst so arm an natürlichen Ressourcen ist, ausgerechnet zu einem wichtigen Handelsplatz für Rohstoffe aller Art werden?
Adrià Budry Carbó: Tatsächlich hat sich die Schweiz in den vergangenen Jahren zu einem führenden Handelsplatz für Rohöl, Gold, Getreide, Kaffee und Zucker entwickelt. Mit der Zuger Firma Glencore hat ausserdem das grösste sich in Privatbesitz befindende Unternehmen, das Kobaltminen betreibt, seinen Sitz in der Schweiz.
Diese dominante Stellung der Schweiz ist auf eine Kombination von Faktoren zurückzuführen. Mit der Ansiedlung grosser internationaler Unternehmen wurde Genf nach und nach zu einer Drehscheibe; diese Firmen profitierten von einem speziellen Status, durch den sie tiefe Steuern zahlen konnten. Schliesslich spielten auch die starken Finanzplätze Genf und Zürich eine Rolle – hier gibt es Banken, die bereit sind, Neueinsteiger im Rohstoffhandel zu finanzieren und deren Risiken zu tragen.
Hinzu kommt das völlige Fehlen einer spezifischen Regulierung für Rohstoffe in der Schweiz – etwas, das auf anderen Finanzplätzen anders ist. Der Bund hat auf regulatorischer Ebene immer eine sehr abwartende Haltung eingenommen und argumentiert, dass die Unternehmen die Schweiz verlassen würden, wenn die Kontrollen verschärft würden.
Die Intransparenz in diesem Sektor wird regelmässig angeprangert…
Diese multinationalen Unternehmen haben zwar ihren Sitz in der Schweiz, operieren aber in einer Vielzahl von Ländern. Es ist daher sehr kompliziert, sie zu belangen. Einige Handelsunternehmen verwalten Dutzende von verschiedenen Einheiten mit Niederlassungen in Amsterdam, Singapur... Ganz zu schweigen von den Briefkastenfirmen. Dass sie wenig Rechenschaft ablegen müssen, nutzen einige Unternehmen aus, um Geschäfte mit manchmal dubiosen Zwischenhändlern zu machen. Trotz zaghafter Anstrengungen für mehr Transparenz erschweren die zunehmend kom-plexeren Strukturen und die unterschiedlichen Rechtsprechungen in den verschiedenen Ländern die Recherche. Wir sind in hohem Masse von internen Informanten abhängig. Und es ist klar, dass diese Undurchsichtigkeit missbräuchliche Praktiken begünstigt.
Wie profitiert die Schweiz von dieser mangelnden Transparenz?
Zunächst einmal sind es die multinationalen Unternehmen selbst, die den grössten Nutzen haben. Das Reputationsrisiko für die Schweiz ist jedoch hoch, wie insbesondere das unter internationalem Druck endlich abgeschaffte Bankgeheimnis für Steuerhinterzieher beweist. Obwohl der Bundesrat das Problem anerkennt, vertraut er weiterhin auf eine indirekte Aufsicht der Rohstoffhändler durch die Banken selbst. Diese sind jedoch nicht verpflichtet, sich dafür zu interessieren, mit wem ihre Kunden Geschäfte machen – wohin ihr Geld also letztendlich geht. Der Regierung scheint das auszureichen. In ihren Augen besteht keine Notwendigkeit für ein Rohstoffgesetz oder eine spezielle Aufsichtsbehörde. Trotz Bericht um Bericht, Skandal um Skandal tut die Schweiz nicht genug.
Im Februar untersuchten Sie die Arbeitsbedingungen von Orangenpflückern in Brasilien – Orangen sind ein Agrar-Rohstoff, der ebenfalls in der Schweiz gehandelt wird. Was haben Sie dort beobachtet?
Die Louis Dreyfus Company, eines der drei grössten Verarbeitungsunternehmen für Orangensaft, hat einen Sitz in Genf. Brasilien liefert seinerseits die Hälfte des weltweit konsumierten Orangensafts. Es ist bekannt, dass die Arbeitsgesetze durch die letzten brasilianischen Regierungen geschwächt wurden. Per Definition ist das Pflücken von Orangen eine prekäre Arbeit. Die Kontaktaufnahme mit den Arbeiterinnen und Arbeitern war kompliziert, da die Orangenhaine eingezäunt sind. Während dieser zweiwöchigen Untersuchung beobachteten wir Schwarzarbeit, die Unterschreitung des Mindestlohns durch die Zulieferer, prekäre Wohnverhältnisse und von der Leistung abhängige Löhne... Kurz gesagt: Verletzungen des Rechts auf gerechte Entlöhnung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Mit der Coronavirus-Pandemie sind die Preise für Orangensaft auf den Finanzmärkten gestiegen, nicht aber die Löhne der Pflücker und Pflückerinnen, die übrigens gezwungen waren, trotz der Pandemie weiterzuarbeiten.
Wie betrifft die Konzernverantwortungsinitiative die Firmen, die im multinationalen Rohstoffhandel tätig sind? Oder sind diese davon ausgenommen?
Nein, auch Handelsunternehmen müssen für die Art und Weise, wie die Rohstoffe gewonnen werden, zur Rechenschaft gezogen werden können. Ohnehin sind viele von ihnen heute mehr als nur Händler, sie sind auch direkt mit Produktions- oder Extraktionsaktivitäten verbunden. Diese Initiative reagiert auf die Notwendigkeit, im Fall von Menschenrechtsverletzungen oder von Umweltverschmutzungen rechtliche Schritte einleiten zu können – diese Möglichkeit gibt es im Bereich der Korruption bereits. Der Fall Glencore macht Mut: Nachdem Public Eye im Jahr 2017 eine Strafanzeige eingereicht hatte, eröffnete die Bundesstaatsanwaltschaft ein Strafverfahren wegen Verdachts auf «Organisationsmängel» bei der Verhinderung von Korruption in der Demokratischen Republik Kongo, wo der Konzern Kupferund Kobaltminen betreibt. Es ist wichtig, dass es rechtliche Instrumente gibt, um gegen potenzielle Verstösse vorzugehen, so dass Rohstoffhändler für betrügerische Aktivitäten im Ausland zur Rechenschaft gezogen werden können.
Die Schweizer Behörden bieten einen Leitfaden an für die Umsetzung der Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte im Rohstoffsektor. Den grösstmöglichen Profit zu machen und gleichzeitig die Menschen- und Umweltrechte zu respektieren, das scheint kaum vereinbar zu sein...
Meiner Meinung nach ist es durchaus möglich, dass wettbewerbsfähige Unternehmen die Menschenrechte respektieren und die Umwelt schützen. Und dass sie Methoden entwickeln, um Korruption und Geldwäscherei zu verhindern. Leitprinzipien dienen in erster Linie der Öffentlichkeitsarbeit, wenn sie nicht gleichzeitig von Kontrollmechanismen zur Überprüfung ihrer Anwendung begleitet werden. Der Ansatz der Freiwilligkeit hat seine Grenzen.
Wie kann sichergestellt werden, dass die lokale Bevölkerung direkt von den Gewinnen der Rohstoffförderung profitiert?
Das Hauptproblem ist die Wirtschaftskriminalität. Wenn man Korruptionsfälle untersucht, stösst man rasch auf Menschenrechtsverletzungen. Es müssen Mittel gegen den sogenannten Rohstoff-Fluch gefunden werden – damit ist gemeint, dass die Menschen in rohstoffreichen Ländern nur sehr wenig von diesen Ressourcen profitieren. Es muss eine Reihe von rechtlichen Strukturen oder Rechtswegen eingeführt werden, z.B. Transparenz über die Geldflüsse von Unternehmen an staatliche Stellen. Der Händler veröffentlicht den für den Erwerb der Rohstoffe gezahlten Betrag, und andererseits veröffentlicht das staatliche Unternehmen, vertreten durch die Regierung, die dafür erhaltene Summe. Es geht darum, der Zivilgesellschaft Instrumente zu geben, damit sie die Regierung zur Rechenschaft ziehen kann. In einigen Ländern, in denen diese Transparenz im Bereich der Rohstoffförderung eingeführt wurde, z.B. in Nigeria, wird über die gerechte Zuteilung der Ressourcen debattiert. Die grossen ölproduzierenden Länder beteiligen sich an diesem Mechanismus, aber er ist immer noch unvollständig, weil bisher nur die Rohstoffförderer, nicht aber die Händler kooperieren müssen.