AMNESTY: Können Sie sich an die erste Abstimmung erinnern, an der Sie teilnahmen?
Elisabeth Joris: Ich hatte damals meine Schriften noch im Wallis, wo das Frauenstimmrecht bereits im April 1970 eingeführt wurde. Ich weiss noch, wie beeindruckt ich war, als ich das Stimmlokal betrat, es war der Singsaal des Rathauses. Aber ich habe keine Ahnung mehr, um welches Thema es ging.
Wieso dauerte es denn so lange, bis die Schweizerinnen das Stimmrecht erhielten?
Die Mehrheit der Männer wollte es einfach nicht, und zwar auf allen Ebenen: Zum einen an der Urne bei der ersten Abstimmung von 1959. Aber auch das Parlament, die Bundesbehörden und das Bundesgericht unternahmen nichts, um das Frauenstimmrecht voranzubringen. 1951 befand der Bundesrat, es sei nicht der richtige Zeitpunkt. Als ob es einen richtigen Zeitpunkt geben würde. In den 50er-Jahren gab es Proteste von Frauen, weil man sie in den obligatorischen Zivildienst einbeziehen wollte, ohne dass sie sich selbst dazu hätten äussern können. Die Parlamentarier haben aber zur Abstimmung von 1959 nur Ja gesagt, weil sie überzeugt waren, dass die Sache dann endgültig vom Tisch sei, da die Männer an der Urne sowieso Nein sagen würden. Und das geschah dann auch.
Bei der zweiten Abstimmung 1971 spielte natürlich der Aufbruch von 1968 eine entscheidende Rolle. Von den jungen Leuten waren 90 Prozent für das Frauenstimmrecht. Dazu kam die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Bundesrat wollte die EMRK mit Vorbehalt unterzeichnen, wegen des fehlenden Frauenstimmrechts und der mangelnden Religionsfreiheit. Die Bundesverfassung enthielt die sogenannten konfessionellen Artikel, die unter anderem gegen die Jesuiten gerichtet waren, was der EMRK widersprach. Die Absicht, die EMRK mit Vorbehalt zu unterzeichnen, löste Proteste bei den Frauenorganisationen aus.
Damals hatten die Frauen in den allermeisten europäischen Ländern das Stimmrecht.
In den 1950er-Jahren wurde der «Sonderfall Schweiz» im Kontext des Kalten Krieges überhöht. Es hiess, die Schweiz sei in zwei Weltkriegen verschont geblieben, weil die Männer an der Grenze gestanden seien; die Zusammenarbeit mit Deutschland wurde ausgeblendet. In diesem Zusammenhang bediente man den alten Tell-Mythos. Die enge Verquickung von Wehrpflicht und Staatsbürgerrecht sei quasi in der Schweizer DNA, wie es heute heissen würde. Weil die Frauen keinen Militärdienst leisteten, sollten sie also auch kein Stimmrecht haben. Aber alle dienstuntauglichen Männer hatten selbstverständlich ein Stimmrecht. Solange die Schweiz diesen Sonderfall zelebrierte, scherte sie sich kaum darum, was das Ausland tat.
Wurde das fehlende Frauenstimmrecht nicht als Grundrechtsfrage wahrgenommen?
Nein. Befürworterinnen wie Gegner haben immer im Kontext der Familie und der Frau als Ehegattin argumentiert. Auf der einen Seite hiess es: Frauen und Männer arbeiten ja zusammen, also sollen beide das Stimmrecht haben. Die andere Seite argumentierte, Frauen und Männer hätten unterschiedliche Funktionen in der Gesellschaft, die Frauen betreuten «das Innere» der Familie, also bräuchten sie kein Stimmrecht. Dass die Frau als Rechtssubjekt, als Einzelperson, Rechte hat – das hat keinen Eingang in die Diskussionen gefunden. Eine andere Ebene der Debatte war: Die Frauen hätten so viel geleistet während des Kriegs, sie hätten das Stimmrecht jetzt verdient. Also auch keine rechtliche Argumentation. Ich beobachte Ähnliches in der heutigen Diskussion um das Ausländer- Stimmrecht: Sie müssen beweisen, dass sie würdig sind, dazuzugehören, sie müssen erst eine Vorleistung bringen.
Wie nehmen Sie das Jubiläum des Frauenstimmrechts wahr – ausser, dass Sie viele Interviews geben?
Ich habe gewisse Vorbehalte dagegen, wie das Jubiläum begangen wird. Es gibt einen momentanen Hype. Mir fehlt die Reflexion der Frage, wie mit Menschenrechten umgegangen wird, die heute in unserer Welt relevant sind. Man empört sich oder lacht über die späte Einführung des Frauenstimmrechts, bewundert die Frauenrechtlerinnen – ich werde zu einer Projektionsfläche sondergleichen. Aber eigentlich sollte es eine Auseinandersetzung mit unseren Denkstrukturen geben. Damit, dass in dieser Selbstgenügsamkeit der Schweiz eine Selbstgerechtigkeit steckt. Ich habe kürzlich einen Artikel aus der Zeitung «Die Woche» von 1958 gelesen über den «Schweizer Exportartikel Demokratie». Es hiess, eine Delegation aus Nigeria sei eingeladen worden, um unsere Demokratie zu studieren. Nicht ein Wort davon, dass in diesem «Exportartikel» die Frauen nicht an der Demokratie teilnehmen konnten.
Was sind heute die Herausforderungen für die Frauenrechte in der Schweiz?
Die Umsetzung der Gleichstellung ist in verschiedenen Bereichen noch nicht vollzogen. Und man geht noch immer vom Mann als der Norm aus. Die ganzen Diskussionen um Flüchtlinge sind im positiven wie im negativen Sinne vom Bild des männlichen Flüchtlings oder Asylsuchenden geprägt. Von den Frauen und Familien ist kaum die Rede, die Migrationspolitik orientiert sich nicht an ihnen. Oder bei der Medizin: Medikamente und Therapien sind auf den Mann ausgerichtet. Dafür werden andere Bereiche rein als Frauenproblem diskutiert, Hausarbeit, Care-Arbeit, Vereinbarkeit von Hausarbeit, Betreuungsarbeit und Berufsarbeit. Es heisst: «Wie ermöglichen wir Frauen die Vereinbarkeit?», nicht: «Wie ermöglicht man grundsätzlich Familien die Vereinbarkeit?» Mutterschaft ist für Frauen nach wie vor ein Risikofaktor im Berufsleben, es gibt Entlassungen oder Zurückstufungen. Nicht zuletzt halte ich die Gewalt gegen Frauen für ein grundsätzliches Problem. Diese hat mit den Sozialen Medien nochmals eine neue Dimension erreicht. Diese Gewalt trifft Männer nicht im gleichen Masse wie Frauen.
Was können wir alle für mehr Gleichstellung tun?
Ganz wichtig ist die Sensibilisierung für Grundrechte und Menschenwürde. Dass es für alle selbstverständlich wird zu intervenieren, wenn Grundrechte verletzt werden. Ich merke auch bei mir selbst, dass ich je nach Situation nicht interveniere – zum Beispiel wenn eine Person etwas sagt, das ich «jenseits» finde. Es braucht quasi eine «Kultur der Intervention».