«Die Leute müssen wissen, dass es eine Grenze gibt, auch für Worte im Internet.» SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner. In der Galerie (Klick auf Bild) zwei Grafiken zu den antisemitischen Vorfällen 2020. © zvg
«Die Leute müssen wissen, dass es eine Grenze gibt, auch für Worte im Internet.» SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner. In der Galerie (Klick auf Bild) zwei Grafiken zu den antisemitischen Vorfällen 2020. © zvg

MAGAZIN AMNESTY Antisemitismus in der Schweiz «Es gab einen Dammbruch»

Interview von Manuela Reimann Graf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» von Juni 2021.
2020 kam es in der Schweiz nicht zu wesentlich mehr antisemitischen Vorfällen als in den Vorjahren. Doch macht die Zunahme antisemitischer Verschwörungstheorien, die auch im Umfeld der sogenannten Corona-Rebellen kursieren, grosse Sorgen. 2021 ist hingegen besorgniserregend gestartet. Interview mit Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG).
AMNESTY: Welche Taten werden im Antisemitismusbericht des SIG überhaupt als antisemitisch klassiert?  

Jonathan Kreutner: Wir gehen von der international anerkannten Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) aus. Fast alle Organisationen, die sich dem Thema widmen, arbeiten mit der Definition. Basis des Berichts sind die uns gemeldeten Vorfälle, die wir darauf hin analysieren, ob sie dieser Definition entsprechen. Gleichzeitig beobachten wir aktiv das Internet auf antisemitische Äusserungen und Drohungen hin. Es gibt Grenzfälle, die bei uns in einer separaten Kategorie landen und für den Bericht nicht mitgezählt werden. Bei Grenzfällen haben wir es oft mit schwierigen Kontextualisierungen und Interpretationsmöglichkeiten zu tun. Das kommt zum Beispiel gehäuft im Bereich von israelbezogenem Antisemitismus vor. 

Viele Vorfälle gelangen aber gar nicht erst zum SIG. Aus verschiedensten Gründen melden sich die Opfer nicht. Müssen wir davon ausgehen, dass viel mehr passiert?  

Wir können davon ausgehen, dass es bei den gravierenden Fällen, bei Tätlichkeiten, keine grosse Dunkelziffer gibt; von diesen Ereignissen würden wir erfahren. Bei «leichteren Fällen», wie Beschimpfungen, muss man von einer Dunkelziffer ausgehen; wie hoch diese ist, ist aber schwer eruierbar.

Durch die Corona-Pandemie gab es offenbar eine Verschiebung der Vorfälle in die sozialen Medien, in denen antisemitische Verschwörungstheorien zunehmen.

Corona war ein starker Trigger. Die sozioökonomischen Auswirkungen der Krise, die auch für die Schweiz aussergewöhnlich sind, könnten zu dieser Zunahme an Verschwörungstheorien geführt haben. Die Pandemie schwemmt, wie schon Jahrhunderte zuvor, antisemitische Klischees an die Oberfläche. Der Bericht bezieht sich allerdings nur auf das Jahr 2020 – im aktuellen Jahr stellten wir in den ersten drei Monaten bereits mehr gravierende Fälle fest als zuvor während eines ganzen Jahres.

Wir hatten schon jetzt einige gravierende Ereignisse wie Schändungen von Synagogen oder sogenannte Zoom Bombings (virtuelle Attacken auf Online-Veranstaltungen, Anm. der Red.). Diese Situation ist sehr besorgniserregend.

Können Menschen, die zuvor mit Antisemitismus nichts am Hut hatten, aufgrund der Corona-Verschwörungstheorien in den sozialen Medien zu Antisemit*innen werden?

Es ist wichtig zu betonen: Nicht alle Corona-Rebellen haben ein Antisemitismus- Potenzial. Aber es ist auffällig, wie stark sich in dieser Bewegung antisemitische Muster manifestieren. Es ist schwierig abzuschätzen, wie viel davon wirklich auf Corona zurückzuführen ist. Allerdings muss festgestellt werden: Die Holocaust- Vergleiche gehören mittlerweile in diesen Kreisen schon fast zum Mainstream. Hier gab es einen Dammbruch.

«Es ist wichtig zu betonen: Nicht alle Corona-Rebellen haben ein Antisemitismus- Potenzial. Aber es ist auffällig, wie stark sich in dieser Bewegung antisemitische Muster manifestieren.»

Es zeigt sich also, dass es in einer solchen Krise mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit der Einschränkung demokratischer Rechte und von Freiheitsrechten einen Nährboden für Antisemitismus gibt. Das gilt übrigens nicht nur für Antisemitismus, sondern auch für Rassismus und für andere Formen der Ausgrenzung. Leider ist es so, dass die jüdische Minderheit oft ein Seismograf für solche Tendenzen in der Gesellschaft ist – der historisch gewachsene Sündenbock halt.

Werden diese Strömungen mit dem Ende der Pandemie wieder schwächer werden, gar verschwinden?

Wir müssen genau hinschauen, was diese Entwicklung für uns und für die gesamte Gesellschaft bedeutet. Die extremen Tendenzen haben leider zugenommen, von links wie von rechts. Wir mussten leider in vielen Fällen Anzeige erstatten – etwas, das wir sonst weniger oft machen. Die Anzeigen betrafen Zoom Bombings oder die unglaubliche Tatsache, dass die PNOS (rechtsnationalistische Partei, Anm. der Red.) die Protokolle der Weisen von Zion in ihrem Parteiheft veröffentlicht. Diese extrem antisemitische Verschwörungstheorie wurde schwarz auf weiss publiziert – das macht uns Angst. Ich denke nicht, dass die gesamtgesellschaftliche Situation von heute auf morgen wieder zur Normalität zurückfinden wird. Deshalb bleiben wir wachsam.

«Dieses Aggressionspotenzial, diese Wut und Gewalt-bereitschaft richten sich ja nicht nur gegen Juden und Jüdinnen; sie verheissen auch für andere Minderheiten nichts Gutes.»

Sie sprechen von Angst. Wie ist die Stimmung – soweit Sie dies einschätzen können – in der jüdischen Gemeinschaft?

Die Bewegungsfreiheit war im Jahr 2020 immer wieder eingeschränkt. Da konnte sich das wachsende Gemisch von Unmut und Protest noch nicht entladen. Jetzt gehen die Leute aber wieder auf die Strasse. Und leider können aus Worten Taten werden. Bereits wurden Synagogen geschändet. Gott sei Dank fanden keine Gottesdienste statt, und so kamen keine Menschen zu Schaden. Es hätte übel ausgehen können, wenn in Biel in dem Moment, als die Eingangspforte geschändet wurde, gerade Leute aus der Synagoge gekommen wären. Dieses Aggressionspotenzial, diese Wut und Gewaltbereitschaft richten sich ja nicht nur gegen Juden und Jüdinnen; sie verheissen auch für andere Minderheiten nichts Gutes.

Was müsste in der Gesellschaft und speziell in der Politik getan werden, um Gegensteuer zu geben?

Wir versuchen wie bisher, bei gravierenden Verfehlungen die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist wichtig, dass der Staat dies auch tut. Die Leute müssen wissen, dass es eine Grenze gibt, auch für Worte im Internet. Denjenigen, die meinen, dass es sich ja «nur» um Worte handle, müssen wir aufzeigen, dass Worte gefährlich sein können.

Wir wollen aber nicht nur den juristischen  Mahnfinger heben, sondern auch stark auf Prävention setzen. Wir arbeiten hier mit Aufklärungsprojekten, die direkt und auf Augenhöhe funktionieren. Durch direkte Begegnungen lernen Menschen übereinander, und Vorurteile entstehen erst gar nicht.

Der Staat hat die Aufgabe, die jüdische Gemeinschaft zu schützen. Das klingt selbstverständlich, aber das war viele Jahre lang nicht klar, so dass wir selber für unseren Schutz aufkommen mussten. Der Staat hat aber auch in der Prävention eine Aufgabe. Es ist wichtig, dass wir gemeinschaftlich, Zivilgesellschaft und Staat, an Lösungen arbeiten.

Wie sieht es mit der Verantwortung der Konzerne aus, die Plattformen wie Facebook, Twitter und Co. anbieten? Müssten die nicht mehr tun, um antisemitische Aussagen zu verhindern?

Das sind multinationale Konzerne, nötig sind multinationale Lösungen. Facebook hat vor Kurzem entschieden, dass Holocaust- Leugnung nicht mehr akzeptiert wird. Diese Unternehmen versuchen also, eine soziale Verantwortung wahrzunehmen. Aber es ist weiterhin kompliziert, die Unternehmen überhaupt zu kontaktieren und sie dazu zu bringen, in konkreten Fällen aktiv zu werden. Ich denke da an den extremen Fall vor einigen Jahren, als eines unserer Vorstandsmitglieder mit dem Tod bedroht wurde. Das waren keine durch die Meinungsfreiheit geschützten Aussagen – selbst im Land der Hauptsitze dieser Konzerne nicht, in den USA. Die Herausforderung besteht darin, diesen Netzwerken ihre Verantwortung aufzuzeigen und zu vermitteln, wo die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und strafrechtlich relevanten Aussagen ist. Diesen Sensibilisierungsauftrag hat auch die Schweiz – auf multinationaler Ebene, aber auch hierzulande.

Umso wichtiger ist die Dokumentation antisemitischer Vorfälle als Beleg für deren Ausmass. Der SIG veröffentlicht jährlich den genannten Bericht, aber nur für die deutschsprachige Schweiz. Für die Romandie wird ein separater Bericht durch die Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la diffamation (CICAD) erstellt. Müsste man nicht die Kräfte bündeln, das Ganze auf Bundesebene organisieren?

Unsere beiden Organisationen erstellen beide Berichte seit fast zwei Jahrzehnten getrennt – das hat kulturelle und sprachliche Gründe. Und es hat auch mit den Diskursen zu tun, die in der deutschen Schweiz durch die Nähe zu Deutschland geprägt sind und in der Romandie durch jene zu Frankreich. Das ist ein Nachteil in einem Land mit Sprachenvielfalt. Doch erstellen wir zusammen mit unseren Westschweizer Partnern eine Synthese der Berichte, deren Resultate sich bisher gegenseitig bestätigt haben. Es wäre schön, wenn sich der Staat darum kümmern würde. Er bündelt zwar die von den zivilgesellschaftlichen Beratungsnetzen gesammelten Fälle und erstellt einen konsolidierten Bericht für den gesamten Rassismusbereich. Ohne zusätzliches zivilgesellschaftliches Engagement hätte der Staat aber kein Gesamtbild der rassistischen und antisemitischen Vorfälle. 

Wie können andere, auch nicht-jüdische Organisationen und die Zivilgesellschaft aktiv werden, um auf Antisemitismus
aufmerksam zu machen und etwas dagegen zu tun?

Die Kräfte müssten gebündelt werden, so könnte man gegenüber dem Staat stärker auftreten. Die Hassrede ist ein Problem, von dem nicht nur Juden betroffen sind, sondern auch andere Minderheiten.

Man ist auch als Minderheit nicht davor gefeit, solche exkludierenden Tendenzen gegenüber anderen zu haben.

Sensibilisierung beginnt aber bei jedem selbst – auch wenn das einige nicht so gerne hören. Man ist auch als Minderheit nicht davor gefeit, solche exkludierenden Tendenzen gegenüber anderen zu haben. Wenn man dies der eigenen Minderheit bewusst macht, stärkt man die Gesamtheit. Dafür braucht es eine Sensibilität für die Anliegen von anderen Gruppen von Betroffenen, und dafür braucht es auch mehr Solidarität untereinander.