Zwei Frauen mit Hijab stellen sich mutig vor ihren Freund, der am Boden liegt, und schützen ihn vor den Schlägen und Tritten einer Gruppe von Polizisten – das Video dieser Szene fand am 15. Dezember 2019 weite Verbreitung. Ladeeda Sakhaloon und Aysha Renna, die beiden 22-jährigen muslimischen Studentinnen aus Neu-Delhi, wurden damit über Nacht zu den prominentesten Gesichtern der Bürgerrechtsproteste in Indien. Gemeinsam mit anderen Student*innen demonstrierten sie an diesem Tag friedlich auf dem Campus ihrer Universität, bis die Polizei die Ausgänge verbarrikadierte und mit Tränengas und Schlagstöcken angriff.
Die Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz breiteten sich schnell im ganzen Land aus und wurden meist von muslimischen Frauen angeführt.
Auslöser für ihren Protest war das Staatsbürgerschaftsgesetz, das am 11. Dezember 2019 vom indischen Parlament verabschiedet worden war. Es ermöglicht Angehörigen religiöser Minderheiten aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan, die indische Staatsbürgerschaft anzunehmen – aber nur, wenn sie vor Ende 2014 nach Indien kamen. Menschen muslimischen Glaubens wird dieses Recht allerdings nicht gewährt. Damit wurde in Indien zum ersten Mal ein Gesetz verabschiedet, das die Religionszugehörigkeit unverhohlen zum Kriterium für die Staatsbürgerschaft macht. Die Proteste dagegen breiteten sich schnell im ganzen Land aus und wurden meist von muslimischen Frauen angeführt.
Rassistische Ideologie
Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima, das vom Hindu-Nationalismus geprägt ist, fühlen sich Muslim*innen in Indien bedroht und dämonisiert, obwohl sie mit 14 Prozent Bevölkerungsanteil die grösste Minderheit im Land bilden. Sie werden Opfer von Polizeigewalt und Hassverbrechen. Muslimische Personen, die eine Gebetsmütze, einen Bart oder eine Burka tragen, müssen Angriffe auf offener Strasse fürchten. Die Regierungspartei Bhartiya Janta Party (BJP) unterstützt eine Kultur der Straffreiheit für die Täter*innen und befeuert die strukturelle Diskriminierung der Muslim*innen im Land.
Um zu verstehen, wie es im pluralistischen Indien zu dieser Situation kommen konnte, muss man einen Blick zurück werfen: Im Jahr 2014 kam die von Narendra Modi geführte BJP in Indien an die Macht. Modi war zuvor 17 Jahre lang Ministerpräsident von Gujarat. In dieser Zeit erlebte dieser westindische Bundesstaat ein gross angelegtes antimuslimisches Pogrom, bei dem mehr als 2000 Menschen, die meisten davon Muslim*innen, von Mitgliedern der BJP und ihr nahestehender Gruppen getötet wurden.
Eine dieser Gruppen ist Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), der auch Premierminister Modi angehört. Die 1925 gegründete Organisation wurde von Adolf Hitlers Ideologie der «Rassenreinheit» inspiriert. Ihr erklärtes Ziel ist die Errichtung einer Hindu-Nation, eines Landes ausschliesslich für Hindus. Die Organisation folgt der Ideologie des politischen Hinduismus (Hindutva), eines ihrer früheren Mitglieder war Nathuram Godse, der Mörder Mahatma Gandhis. Vinayak Damodar Savarkar, der Stammvater der Hindutva- Ideologie, sagte 1944 in einem Interview mit dem US-Journalisten Tom Treanor, Muslim*innen würden «die Position von N*** in Ihrem Land» einnehmen. Savarkars Porträt hängt heute im indischen Parlament.
Im letzten Jahrhundert verfolgte der RSS hartnäckig sein Ziel, die nationale Identität mit der religiösen Identität zu verschmelzen und Indien zu homogenisieren.
Indien ist ein Land mit einer grossen Vielfalt an Religionen, Kulturen und Sprachen, die nebeneinander existieren. Im letzten Jahrhundert verfolgte der RSS hartnäckig sein Ziel, die nationale Identität mit der religiösen Identität zu verschmelzen und Indien zu homogenisieren. Die einflussreiche Gruppe strebt danach, in Indien (Hindustan) eine Sprache (Hindi) und eine Religion (Hinduismus) festzulegen. Narendra Modi treibt diese Agenda mithilfe seines Vertrauten Amit Shah voran, der mittlerweile Innenminister geworden ist.
Internierungslager für «Termiten»
Der 22-jährige Abdul arbeitet als Bauarbeiter in einer Hafteinrichtung für «illegal Eingewanderte» im Bezirk Goalpara im nordindischen Bundesstaat Assam. Das Internierungslager befindet sich in einer abgelegenen Gegend und erstreckt sich über 2,8 Hektaren. Abdul wurde zum «illegalen muslimischen Einwanderer» erklärt und dort interniert, weil er keine Dokumente vorlegen konnte, die seine indische Staatsbürgerschaft bestätigt hätten. Dabei sind er und seine Eltern in Indien geboren und haben stets im Land gelebt. Um sich in der ineffizienten Bürokratie offizielle Dokumente zu besorgen, fehlt es den sozioökonomisch Schlechtergestellten an Zeit und Geld. Abduls Eltern waren landlose Arbeiter*innen und starben bei einem Unfall, als er neun Jahre alt war. Er hat keine Hoffnung auf eine Entlassung, sein Cousin Ali hat sich vor zwei Monaten in einem anderen Internierungslager im Bezirk Tezpur in Assam das Leben genommen.
Die Hafteinrichtungen gehen auf eine Idee von Innenminister Amit Shah zurück: Während des Wahlkampfs für die Parlamentswahlen 2019 rief er zur Vertreibung der «Termiten » auf und versprach, die BJP werde «eine landesweite Kampagne durchführen, um die Eindringlinge zurückzuschicken ». Gemeint waren muslimische Migrant*innen aus Bangladesch, die sich ohne gültige Papiere in Indien aufhielten. Kurz nach der Wahl teilte das Innenministerium am 31. Juli 2019 mit, man werde das Bevölkerungsregister (NRC) aktualisieren. Dafür musste jede Person schriftlich nachweisen, dass sie selbst, ihre Eltern oder Grosseltern vor dem 24. März 1971 in Indien wohnten. Fehlt dieser Nachweis, werden die Betroffenen zu illegal Eingewanderten erklärt.
Fünf Monate später, im Dezember 2019, wurde zudem das eingangs erwähnte Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet. Ein Effekt dieses Gesetzes ist, dass die Angehörigen der sechs grössten Religionsgemeinschaften die Staatsbürgerschaft einfach neu beantragen können, falls sie wegen des neuen Bevölkerungsregisters für illegal erklärt worden sind – mit Ausnahme der Muslim*innen.
Das Zusammenspiel dieser beiden Vorgänge zielt auf die Gruppe der Muslim*innen und sorgt dafür, dass viele von ihnen zu illegal Eingewanderten erklärt werden können. So wie Abdul. Wer die Anforderungen zur Aktualisierung des Bevölkerungsregisters nicht erfüllt, wird abgeschoben oder interniert.
Das Innenministerium gab bekannt, dass weitere Internierungslager in Assam im Bau seien. Häftlinge wie Abdul werden dafür als Arbeitskräfte eingesetzt. «Niemand kehrt jemals aus den Haftanstalten zurück», sagt Abdul. «Ich werde hier sterben.»
Wenn Ministerpräsidenten hetzen
Der derzeitige Ministerpräsident des Bundesstaats Utar Pradesh ist ein Mönch namens Yogi Adityanath, ein Vertreter der BJP, der Muslim*innen als gefährliche Kriminelle bezeichnet, sie als Teil einer systematischen islamischen Verschwörung sieht und behauptet, sie befänden sich im Krieg gegen den indischen Staat und die Hindus.
Adityanath, gegen den mehrere Strafverfahren hängig sind, ist für antimuslimische Äusserungen bekannt. Er sagte einmal: «Wenn ein Hindu-Mädchen einen muslimischen Mann heiratet, dann werden wir im Gegenzug hundert muslimische Mädchen nehmen. (…) Wenn sie einen HinduMann töten, dann werden wir hundert muslimische Männer töten.» Kürzlich forderte er ein Einreiseverbot für Muslim*innen.
Der derzeitige Ministerpräsident des Bundesstaats Utar Pradesh ist ein Mönch namens Yogi Adityanath forderte kürzlich ein Einreiseverbot für Muslim*innen.
Doch Adityanath belässt es nicht bei der Hetze gegen Minderheiten. Zwischen 2000 und 2017 wurden in Indien 1782 Fälle registriert, bei denen die Polizei auf angebliche Kriminelle schoss. Seit dem Amtsantritt von Adityanath 2017 gab es nach Recherchen von Medien und Nichtregierungsorganisationen allein in seinem Bundesstaat knapp 6500 zweifelhafte Polizeieinsätze. Mindestens 125 hatten Todesopfer zur Folge. Muslim*innen sind überproportional häufig betroffen. Die Regionalregierung und die BJP feiern diese Polizeiaktionen als Erfolge. Die beteiligten Polizist*innen erhalten zur Belohnung Geld oder werden befördert. Die Rechtmässigkeit des Vorgehens wird in aller Regel nicht untersucht.
Im Januar 2019 äusserte auch das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte «extreme Besorgnis» über diese Polizeieinsätze. Die Regierung von Uttar Pradesh tat dies als «böswillig» ab. Bei seinen Anhänger*innen gilt Adityanath als ideologischer Nachfolger Modis.
Wachsender Widerstand
Während die indischen Mainstream-Medien Adityanath ein gutes Zeugnis ausstellen, sorgte die hohe Zahl der Corona-Todesfälle zuletzt für grosse Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Das schlechte Krisenmanagement und die unzureichende staatliche Gesundheitsvorsorge könnten sich auf die Wahl 2022 in Uttar Pradesh auswirken.
Unmittelbar nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie versuchten Hindu-Nationalist*innen und regierungstreue Medien, eine muslimische Versammlung mit rund 9000 Teilnehmer*innen für die Verbreitung des Virus verantwortlich zu machen. Wenig später tauchten aber Bilder mehrerer nichtmuslimischer Massenveranstaltungen ohne jeden Infektionsschutz auf – darunter Modis grosse «Namaste Trump»-Show, mit der er den damaligen US-Präsidenten empfing, und das für Hindus heilige Mahakumbh-Fest Anfang 2021 mit Millionen von Teilnehmer*innen.
Seit Narendra Modi 2014 an die Macht kam, sind die Proteste gegen die indische Regierung ein Staffellauf, bei dem eine Gruppe den Stab an die nächste weiterreicht. Als Lynchmorde und Hassverbrechen gegen Muslim*innen zunahmen, gaben zudem mehrere Künstler*innen und Intellektuelle ihre staatlichen Auszeichnungen aus Protest zurück. Die landesweite Sitzblockade gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz endete zwar coronabedingt im März 2020, doch schon im Oktober kam es zu Massenprotesten gegen die neuen Landwirtschaftsgesetze.
Eines der prominentesten Gesichter dieses Widerstandes ist die 82-jährige Bilkis Bano, die von Dezember 2019 an vier Monate lang in Shaheen Bagh kampierte, einem wichtigen Protestort in Neu-Delhi. «Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich an einer politischen Bewegung beteiligt habe. Davor war ich Hausfrau und habe das Haus nie verlassen. Aber wie kann ich jetzt zu Hause sitzen, wenn ich weiss, dass meine Kinder vielleicht aus diesem Land, das ihre Heimat ist, hinausgeworfen werden oder ins Gefängnis müssen? Ich werde diesen Ort erst verlassen, wenn das Leben meiner Kinder sicher ist, wenn die Pluralität Indiens sicher ist. Wir sind mächtig, und es ist an der Zeit, Modi das Fürchten zu lehren.»