«Als wir am 7. Dezember 1944 die Grenze zur Schweiz überquerten und endlich frei waren, konnten wir es fast nicht glauben: Wir waren hungrig, verdreckt und müde von der langen Reise, die wegen der Fliegeralarme ständig unterbrochen wurde. Wir waren voller Hoffnung, hatten den Schrecken des Konzentrationslagers überstanden.» Dies erzählte Ladislaus Löb Mitte September beim Gespräch in seiner Wohnung im Zürcher Stadtzentrum. «Was wir erlebt hatten, war so unglaublich in seiner Grausamkeit, dass ich mir manchmal fast selbst nicht glaube, wenn ich zum Beispiel vor Schulklassen davon berichte.» Im Winter 1944 war Ladislaus Löb als Kind aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen entkommen, wo 50 000 Menschen den Tod fanden. Kurze Zeit nach dem Treffen, bei welchem ich einen beindruckenden, weltoffenen und noch sehr agilen Rentner kennenlernte, starb der 88-Jährige überraschend.
Der 11-jährige Ladislaus Löb.
© zvg
Viele der Holocaust-Überlebenden sprachen nach dem Krieg nie über das Durchgemachte, die Shoa wurde zum Tabuthema – zu gross war das Trauma, zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an diejenigen, die nicht überlebt hatten. Auch Ladislaus Löb hatte sich jahrelang nicht mit dem Holocaust auseinandergesetzt. «Ich wollte zunächst einfach leben, nicht mehr daran denken. Doch mit der Zeit begann ich eine tiefe Verpflichtung zu spüren: Ich musste festhalten, was wirklich geschehen war», sagte er. 60 Jahre nach seiner Rettung aus dem KZ schrieb Löb ein Buch, in welchem er seine Erlebnisse aufarbeitete. «An die, die nicht überlebt hatten, wollte ich erinnern. Und an meinen Vater. Sein Mut, seine Tapferkeit und auch seine Gewitztheit haben mir damals das Leben gerettet. Ich wünschte, ich hätte zu seinen Lebzeiten mehr Dank und Respekt gezeigt.» Das Buch handelt auch vom wenig bekannten Schicksal der ungarischen Juden und Jüdinnen. Und vor allem vom jüdisch-zionistischen Juristen und Journalisten Rezsö Kasztner, der Hunderte gerettet hat.
«Die Austauschjuden»
«Dass mein Vater rechtzeitig mit mir flüchtete, hat uns das Leben gerettet.» Ladislaus Löb, Holocaust-Überlebender
Ladislaus Löb wurde 1933 im damals zu Rumänien gehörenden Siebenbürgen geboren, das später Teil Ungarns wurde. Seine Mutter starb, als er 9 Jahre alt war. Schon früh erlebte der Bub Judenhass, wurde in der Schule diskriminiert und gegängelt. Als Hitlers Armee das Land besetzte, mussten Vater und Sohn ins Getto von Koloswar, wo elende Zustände herrschten. In Erahnung von weit Schlimmerem flohen die beiden nach Budapest. Kurz danach wurde der im Getto verbliebene Rest der Familie nach Auschwitz deportiert und ermordet. «Dass mein Vater rechtzeitig mit mir flüchtete, hat uns das Leben gerettet.»
Ladislaus Löb mit seinem Vater, dessen Beharrlichkeit er sein Leben zu verdanken hat.
© Ladislaus Löb/ Gamaraal Foundation
Dank des Vaters Beharrlichkeit wurden Vater und Sohn Teil der sogenannten Kasztner-Gruppe: Durch die Vermittlung eines jüdischen Hilfskomitees, dem Rezsö Kasztner vorstand, wurde eine Gruppe von 1700 «Ungarnjuden» nicht wie mehr als 400 000 andere nach Auschwitz verfrachtet, sondern in Viehwaggons ins Konzentrationslager Bergen- Belsen gebracht. Dieses KZ war kein Vernichtungslager wie Auschwitz, sondern ein Aufenthaltslager für sogenannte Austauschhäftlinge. Diese wurden als Geiseln festgehalten, um später gegen Devisen, Waren oder deutsche Gefangene eingetauscht zu werden. Ladislaus Löb war damals 11 Jahre alt.
Obwohl sie im Lager ein Leben unter erbärmlichsten Bedingungen fristeten, hätten es die Gefangenen im «Ungarnlager » verhältnismässig gut gehabt, betonte Löb immer wieder. «In den anderen Lagerteilen wurden Tausende unter weit schlimmeren Bedingungen festgehalten.» Unzählige starben an Krankheiten, Unterernährung oder durch die Brutalität der Lagerbetreuer*innen. Nur die wenigsten kamen frei, für viele war es eine Zwischenstation auf dem Weg in ein Vernichtungslager, wo sie dann ermordet wurden. «Auch wir lebten mit der ständigen Angst, doch noch nach Auschwitz gebracht und vergast zu werden», sagte Löb.
Gegen Geld eingetauscht
Die hartnäckigen Verhandlungen Rezsö Kasztner mit SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, dem Architekten der «Endlösung», die komplizierten Geldbeschaffungsversuche und die schwierige Frage, welche Menschen für den Freikauf ausgewählt würden, hat Löb in seinem Buch «Geschäfte mit dem Teufel» akribisch dokumentiert. Auch die unangenehmen Seiten der Geschichte werden thematisiert, so die Begünstigung der eigenen Angehörigen unter den jüdischen Gefangenen. «Mein Buch sollte bei der Wahrheit bleiben», betonte Löb. «Und so objektiv sein, wie möglich. » Folglich kommt auch Kasztner im Buch nicht nur gut weg: Löb beschreibt ihn als zwiespältige Figur, überheblich und ehrgeizig. Nach dem Krieg wird Kasztner in Israel der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt und 1957 von einem jüdischen Extremisten ermordet.
Der jüdisch-zionistische Jurist und Journalist Rezsö Kasztner rettete hunderte ungarische Juden und Jüdinnen.
© Unbekannter Fotograf
Die Rolle Kasztners ist bis heute umstritten, für Löb blieb er aber der Retter. Dank Kasztner konnten 1670 Ungarnjuden in Bergen-Belsen Ende 1944 freigekauft werden. Löb und sein Vater wurden in die Schweiz gebracht, wo der Junge ins Gymnasium ging und danach Germanistik studierte. Später wurde er Professor für deutsche Literatur an der University of Sussex in Brighton, England. 2017 kehrten er und seine Frau in die Schweiz zurück.
Warum absolvierte er ausgerechnet ein Studium der deutschen Sprache und Literatur – der Sprache der Nazis, der Lagerkommandanten? Für Ladislaus Löb war es wichtig, nicht alles Deutsche zu verurteilen und die deutsche Kultur und ihre Errungenschaften nicht generell abzulehnen. Aber er gab auch unumwunden zu: «Dass ich Germanistik-Dozent wurde, hatte auch praktische Gründe. Ich habe in der Schweiz sehr gut Deutsch gelernt. Und damit hatte ich für mein berufliches Weiterkommen in England etwas in der Hand.»
Er könnte ja andere, interessantere Gründe dafür nennen, dass er dort als Deutschlehrer begann, meinte er. «Aber mir ist es wichtig, bei der Wahrheit zu bleiben. Ehrlichkeit und Exaktheit sind zentral, gerade auch in den Vorträgen, in denen ich über meine Jugend erzähle. Denn nur so bleibe ich glaubwürdig.» Was Lügen bewirken könnten, das habe der Nationalsozialismus gezeigt: «Aufgrund von Unwahrheiten, die Vorurteile befeuerten, wurden letztendlich ja 6 Millionen Juden ermordet.»
Dass so etwas nie mehr geschieht, dafür setzte sich Löb ein. Er hatte vor, dies noch lange zu tun. Doch leider waren ihm weitere Jahre der Aufklärung nicht vergönnt.
Die Stiftung Gamaraal und «The Last Swiss Holocaust Survivors»
In der Schweiz gibt es nur noch wenige Überlebende des Holocaust. Damit das Geschehene nicht vergessen geht, engagieren sich Zeitzeug*innen auch in der Schweiz mit Lesungen, Vorträgen und Schulbesuchen. Dazu gehört unter anderem die Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors», in der mit Porträts und Erzählungen von Überlebenden die Geschichte des Holocaust individualisiert und für künftige Generationen bewahrt wird. Die Porträtierten stammen aus unterschiedlichen Ländern Europas und leben heute in der Schweiz.
Organisiert wird die Ausstellung, die bereits in verschiedenen Städten und Ländern mit grossem Erfolg gezeigt wurde, von der Gamaraal Foundation. Die 2014 von Anita Winter gegründete Stiftung unterstützt Holocaust-Überlebende und organisiert Begegnungen mit Zeitzeug* innen. Anita Winter ist Tochter von Holocaust-Flüchtlingen und setzt sich seit Jahren gegen das Vergessen und für die Hilfe an Überlebende ein. Am 17. Februar 2021 wurde Anita Winter mit dem Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
2020 richtete die Stiftung eine Corona-Hotline ein, da wegen der Pandemie einige Holocaust-Überlebende rasch Hilfe benötigten, unter anderem weil die Ausnahmesituation schlimme Erinnerungen hochkommen liess. Betroffene können sich an die Hotline wenden und erhalten Hilfe von Freiwilligen.