Ein alter Palästinenser ärgert sich über das Abwasser einer Siedlung. © EPA/Abed Al Hashlamou
Ein alter Palästinenser ärgert sich über das Abwasser einer Siedlung. © EPA/Abed Al Hashlamou

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2022: Wasser Besetztes Wasser

Von Manuela Reimann Graf. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2022.
In den besetzten palästinensischen Gebieten ist der Zugang zu Wasser ungleich verteilt, was das tägliche Leben und die Gesundheit der Bevölkerung beeinträchtigt.

«Gleich dort liegt die israelische Siedlung mit Swimmingpools, grünem Rasen und blühenden Gärten – während wir hier jeden Tropfen Wasser sparen müssen, damit unser Gemüse wächst», sagt Suheir* und zeigt über das trockene, hügelige Land. Sie arbeitet auf der Om’Sleiman-Farm, einem kleinen Landwirtschaftsprojekt im Westjordanland. Mittels naturnaher Anbaumethoden versucht das palästinensische Team nicht nur die spärlichen Ressourcen möglichst ökologisch zu nutzen, sondern auch die Bevölkerung für nachhaltigen Anbau zu sensibilisieren. «Wasser ist eines unserer Hauptprobleme. Wir wissen nicht, wie wir die horrenden Gebühren bezahlen sollen.»

Es ist nicht so, dass es kein Wasser gäbe in diesem semiariden Gebiet. Denn unter dem Westjordanland liegt der Mountain Aquifer, ein riesiges Grundwasserreservoir. Doch sind die Durchschnittstemperaturen in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen, die Regenmenge ist zurückgegangen. Das Bevölkerungswachstum verstärkt die Entwicklung, dass Wasser immer rarer wird. Zumindest für die Palästinenser*innen.

Kein ökologisches Problem

Seit Beginn der Besatzung im Jahr 1967 kontrolliert Israel alle Wasserressourcen in den besetzten Gebieten. Mit den Osloer Abkommen von 1995 schien es in Richtung einer gleichberechtigteren Verteilung der Ressourcen zu gehen, doch zementierten die Abkommen letztlich die Machtverhältnisse. «Dieses eigentlich auf fünf Jahre befristete Abkommen mündete in eine ungleiche Verteilung des Wassers, wobei Israel den weitaus grösseren Nutzen daraus zog», sagt Michael Lynk, der scheidende Uno-Sonderberichterstatter für die palästinensischen Gebiete. In den Oslo-Vereinbarungen wurden Israel 80 Prozent des Wassers aus dem Mountain Aquifer zugesprochen, hingegen nur 20 Prozent den Palästinenser*innen. «Der Wassermangel der Palästinenser*innen ist kein ökologisches Problem», betont der Professor für Verfassungs- und Menschenrechte. «Es geht hier um eine verfestigte Besatzung, die ein ungerechtes Verteilungssystem etabliert hat.»

Quellen: UNEP, OCHA; Palestinian Academic Society for the Study of International Affairs - Jerusalem (PASSIA), Applied Research Institute - Jerusalem (ARIJ). Gestaltung: © muellerluetolf.ch

Denn während den israelischen Bürger*innen innerhalb Israels und in den Siedlungen stets ausreichend Wasser zusteht, beschränken die israelischen Militärbehörden den Zugang der palästinensischen Bevölkerung in den besetzen Gebieten mittels militärischer Anordnungen. Genehmigungen für neue Pumpen, Brunnen oder andere Infrastrukturen werden von der israelischen Armee praktisch nie erteilt. Sogar das Sammeln von Regenwasser ist in den meisten Teilen des Westjordanlands verboten. Die israelische Armee zerstört regelmässig Regenwasser-Zisternen oder -Becken. Auch die Om’Sleiman-Farm plant ein Regenwasser-Sammelbecken, sobald genug Spenden zusammengekommen sind. «Wir riskieren bei jeder Infrastruktur, die wir anlegen, dass sie durch die israelische Armee wieder zerstört wird», sagt Suheir.

Keine Entwicklung möglich

Gemäss der Uno haben schätzungsweise 660 000 Palästinenser*innen im Westjordanland nur begrenzten Zugang zu Wasser, rund 420 000 Personen verbrauchen im Durchschnitt weniger als 50 Liter pro Tag und Kopf, was weit unter den von der WHO empfohlenen 100 Litern liegt. Der Preis des Wassers, das die palästinensische Bevölkerung zukaufen muss, ist gemäss der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem bis zu acht Mal höher als derjenige für die Siedlungen. Auch Suheir schätzt, dass die Om’Sleiman-Farm etwa drei Mal mehr fürs Wasser bezahlt als die gegenüberliegende israelische Siedlung.

Aus Sicht der israelischen Regierung ist vor allem die palästinensische Autonomiebehörde für die Wasserprobleme verantwortlich, weil sie lecke Leitungen nicht reparieren und nicht in Kläranlagen investieren würde. Es komme auch zu viel Wasserdiebstahl. Michael Lynk widerspricht: «Die palästinensischen Autonomiebehörden haben zwar eine Verantwortung in den von ihnen verwalteten Orten, die höchste Verantwortung liegt dennoch bei Israel. Das Völkerrecht sagt klar: Die Besatzungsmacht muss die Besatzung im besten Interesse der besetzten Bevölkerung ausüben. Dazu gehört auch, den Palästinenser*innen den Zugang zu sauberem Trinkwasser zu ermöglichen, das ihnen von Rechts wegen zusteht.» Die Zerstückelung des Westjordanlands und die Besatzung behindern die Erschliessung der Ortschaften durch Strassen und den Aufbau einer stabilen Energie- und Wasserversorgung, da sie israelische Genehmigungen erfordern oder durch das israelisch kontrollierte C-Gebiet führen.

Eine weitere Wasserquelle in der Region ist der Jordan-Fluss, der aus dem Bergen des Libanons Wasser Richtung Totes Meer führt. Doch dieses Wasser bleibt für die Palästinenser* innen aus dem Westjordanland unerreichbar: Fast das gesamte fruchtbare Jordantal ist unter israelischer Kontrolle. Palästinenser*innen ist es verboten, es zu nutzen oder sich dort aufzuhalten. Israel zweigt 95 Prozent des Jordan-Wassers bereits beim See Genezareth im Norden Israels ab, noch bevor es ins Westjordanland fliesst: Schon in den 1960er-Jahren baute Israel ein 130 Kilometer langes Kanalsystem, das Wasser aus dem See nach Israel führt. Die Folgen für das Tote Meer sind dramatisch: Seit Jahren trocknet es immer mehr aus, der Wasserspiegel sinkt jährlich um einen Meter. Die Absenkung führt dazu, dass das Grundwasser aus den umliegenden Gebieten in Richtung des Toten Meeres fliesst. Die Wasserknappheit wird sich dadurch im Westjordanland noch weiter verschärfen.

Gefährliches Wasser in Gaza

Noch weit schlimmer ist die Lage im dicht besiedelten Gazastreifen mit seinen rund zwei Millionen Einwohner*innen. Auch hier liegt der Küste entlang ein unterirdisches Wasserreservoir. Dennoch hat gemäss der Weltbank nur ein Prozent der Bevölkerung Gazas Zugang zu Trinkwasser, das den WHO-Standards entspricht. Denn wegen einer massiven Übernutzung dringt seit Jahren Meerwasser ins Grundwasser, was zu einer Versalzung und hohen Nitratwerten führt – mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen. Die Bevölkerung ist gezwungen, Wasser von schlechter Qualität zu nutzen, was mehr als 25 Prozent aller Krankheiten in Gaza verursacht. Mehr als die Hälfte der Kinder leiden unter Durchfallerkrankungen. Die hohen Nitratwerte sind gesundheitsschädigend und können bei Kindern zu Störungen in der Entwicklung des Gehirns und im Wachstum führen.

Hinzu kommt, dass durch die verschiedenen Luftangriffe auf den Gazastreifen während der vergangenen Jahre viele Wasserinfrastrukturen zerstört wurden. Aufgrund der Blockade des Gazastreifens ist es kaum möglich, Baumaterialien zu importieren und die zerstörten Anlagen zu reparieren oder gar neue zu bauen. Ständige Stromausfälle tun das Ihre dazu, dass Pumpen sowie Abwasser- und Entsalzungsanlagen oft nicht arbeiten. Und so müssen nach Angaben der Uno 90 Prozent der Haushalte im Gazastreifen Wasser zu hohen Preisen kaufen.