AMNESTY: Der Verein Tatkraft beabsichtigt, mit anderen Behindertenorganisationen zusammen eine Volksinitiative zu starten. Was genau verlangt die Initiative?
Islam Alijaj: Wir möchten vor allem einen Paradigmenwechsel zu einer echten Gleichstellung vollziehen. Denn schauen wir uns doch die geltende Bundesverfassung an, konkret den Artikel 8 zur Rechtsgleichheit. Im Absatz 3, wo es um die Gleichstellung von Frau und Mann geht, heisst es: «Der Bund sorgt für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau.» Wenn es aber um die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen geht, steht im Absatz 4 lediglich, dass der Bund «Massnahmen für die Beseitigung von Diskriminierung und Barrieren ergreift» – da steht nichts von Gleichstellung!
Wir wollen also von einer passiven Formulierung zu einer tatsächlichen Gleichstellung übergehen, die den Bund verpflichtet, diese auch umzusetzen. Der Artikel 112b der Bundesverfassung besagt ausserdem, dass die Eingliederung von «Invaliden» durch den Bau von Heimen und Institutionen sichergestellt werden soll. Gerade hier wollen wir mit der Initiative eine zentrale Änderung bewirken: Wir möchten, dass das Assistenzmodell – nicht Heime – als primäre Lösung anerkannt wird, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen.
Das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG) von 2002 reicht demnach nicht aus.
Das BehiG war ein wichtiger Meilenstein und wollte vor allem im Bereich Mobilität Erleichterungen schaffen. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Verkehrsbetriebe, insbesondere die SBB, die Umsetzung verschlafen haben. Sie müssten nämlich bis 2023 alle Haltestellen barrierefrei ausgestalten. Jetzt werden die Umbauten als Luxuslösung bezeichnet, die zu teuer sei.
Die Initiative verlangt also ausreichende Assistenzleistungen, um ein selbstbestimmteres Leben führen zu können. Die sogenannte «Invalidenversicherung» (IV) bezahlt doch bereits Assistenzbeiträge.
Die IV richtet seit 10 Jahren Assistenzbeiträge aus – diese sind aber sehr limitiert. Ausserdem konzentriert sich der IV-Assistenzbeitrag hauptsächlich auf die Bereiche Wohnen und Freizeit – das sind nur zwei von vielen Lebensbereichen. Auch hat der Tag bei der IV nur 12 Stunden, das heisst, man erhält für den halben Tag Unterstützung und diese Maximalzeit auch nur dann, wenn man schwerstbehindert ist. Verschiedene Kantone sind dabei, neue Gesetze zu verabschieden, die die Selbstbestimmung erleichtern sollen. So habe ich bei der Ausarbeitung des Gesetzes im Kanton Zürich den starken Widerstand der Heimlobby erlebt. Diese starke Lobby hat weit mehr Mittel und Einfluss als die vergleichsweise kleinen Organisationen der Menschen mit Behinderungen. Es ist ein sehr ungleiches Spiel.
Sie werfen den Institutionen vor, gegen die Interessen von Menschen mit Behinderungen zu agieren?
Die Heimlobby hat ein starkes Interesse daran, das jetzige System beizubehalten. Das Assistenzmodell würde nämlich den Geldfluss umleiten: Nicht mehr vom Bund zu den Institutionen, sondern zu den Menschen mit Behinderungen selbst. Wir würden damit zu echten Kund*innen und gleichzeitig zu Arbeitgeber* innen von Assistenzpersonen.
Das Behindertenwesen ist ein Riesengeschäft. Der Bund und die Kantone buttern jährlich Milliarden an Steuergeldern in das Behindertenwesen. Dazu kommt, dass die meisten Behindertenorganisationen – abgesehen von einzelnen Beispielen – von nicht-behinderten Menschen geführt werden. In den Geschäftsleitungen und Vorständen sitzen Nicht-Behinderte. Sie und die nicht-behinderten Politiker*innen sprechen und entscheiden über uns Betroffene, ohne selbst diese Lebenserfahrungen gemacht zu haben. Es wäre gesellschaftlich ja auch nicht akzeptabel, wenn Männer Frauenorganisationen leiten würden.
Ist deshalb die Schweiz so im Hintertreffen bei der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen?
Die Gesellschaft weiss noch sehr wenig über uns Menschen mit Behinderungen, über unseren Alltag und unsere Möglichkeiten. Wir gelten bei vielen noch immer als arme, hilflose Geschöpfe, die «versorgt» werden müssen. Dieses Bild untermauern leider noch heute viele Behindertenorganisationen mit ihren Spendenaufrufen. Das hilft nicht dabei, die Gleichstellung zu erreichen.
Das Hauptargument der Gegner*innen in einem kommenden Abstimmungskampf wird das Geld sein – eure Anliegen seien viel zu teuer. Wie werden Sie darauf antworten?
Zum einen wollen wir im Abstimmungskampf vorleben, was wir fordern. Das heisst: Wir Menschen mit Behinderungen wollen selber die Unterschriften sammeln, selber die Lobbyarbeit machen, selber öffentlich gegen das Geldargument antreten. Das allein wird schon eine neue Dynamik bewirken, denn dann müssen uns die Gegner*innen ins Gesicht schauen, wenn sie uns sagen, dass wir nur ein Kostenfaktor für sie sind. Ausserdem müssen wir gut aufzeigen, dass unser Vorschlag die Steuerzahler* innen langfristig viel günstiger kommt als das gegenwärtige ineffiziente und teure System.
Sie erwähnten das Ziel, dass Menschen mit Behinderungen selber für ihre Rechte eintreten. Sie haben diesen Weg gewählt, Sie wurden dieses Jahr in den Zürcher Gemeinderat gewählt. Das muss für Sie mit viel Zusatzaufwand verbunden sein.
Es ist ein sehr grosser Stress, zugegeben. Die Hälfte davon wäre unnötig, wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen gegeben wären. Mit der Wahl in den Gemeinderat habe ich einen Volksauftrag erhalten. Damit ich diesen aber erfüllen kann, streite ich seit Februar mit den Behörden um genügend Assistenzleistung. Die IV zahlt mir aber nur 120 Stunden pro Monat, weil ihr Erfassungsinstrument schlicht nicht mehr Stunden erfassen kann. Statt dass ich Zeit für die Erfüllung meines Mandats habe, geht die Zeit für Diskussionen mit den Behörden drauf. Diese fühlen sich zudem oft überhaupt nicht verantwortlich und und argumentieren, dass die notwendigen Gesetze fehlen würden. Das empfinde ich als Skandal, denn es geht um die Erfüllung eines Volksauftrags.
Was müsste denn getan werden, damit die Behörden und Gemeinden ihrer Aufgabe auch praktisch besser nachkommen? Dazu reicht die Initiative ja dann doch nicht aus.
Mit dem Verein Tatkraft planen wir, ein Tool zu entwickeln, mit dem die Gemeinden überprüfen lassen können, wo sie bei der Umsetzung der Uno-Konvention stehen und wo sie sich Hilfe holen können. Viele Gemeinden wollen etwas tun, aber sie wissen nicht wie. Man muss sie an die Hand nehmen und ihnen Werkzeuge in die Hand geben. Nur Forderungen zu stellen, reicht nicht aus.
Sie beschäftigen sich schon lange mit dem Thema, jetzt kommt noch der grosse Aufwand einer Volksinitiative dazu. Machen Sie all diese Missachtung Ihrer Anliegen und die vielen Hindernisse nicht oft wütend? Es muss zumindest frustrierend sein.
Es macht extrem müde. Und auch wütend. Aber mir wurde vor rund zwölf Jahren klar: Entweder ich akzeptiere das Schicksal, das mir die Gesellschaft aufzwingt, oder ich mache etwas dagegen. Ich habe seither eine sehr intensive Zeit erlebt und viele Freund*innen gewonnen. Ich möchte zudem auf keinen Fall, dass meine Kinder in einer Gesellschaft aufwachsen, in welcher der eigene Vater als armes, hilfloses Geschöpf gilt. Ich möchte ein Vorbild sein für meine Kinder, für die nachfolgenden Generationen, und aufzeigen: Auch wenn du eine Behinderung hast, kannst du dein Schicksal in die eigenen Hände nehmen.
Ernüchternder Bericht der Uno
Die Uno-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) wurde am 13. Dezember 2006 von der Uno-Generalversammlung verabschiedet. Zweck der UNBRK ist es, für alle Menschen mit Behinderungen den vollen und gleichberechtigten Zugang zu allen Menschenrechten und Grundfreiheiten zu gewährleisten sowie die Achtung ihrer Würde zu fördern. Das beinhaltet zum Beispiel das Recht auf Barrierefreiheit, selbstbestimmte Lebensführung und Zugang zu Informationen. An der Entstehung der UN-BRK waren Menschen mit Behinderungen massgeblich beteiligt. In der Schweiz wurde die Konvention 2014 ratifiziert; sie trat am 15. Mai 2014 in Kraft. Damit verpflichtet sich die Schweiz zu einer inklusiven Gesellschaft.
Im März dieses Jahres wurde vom Uno-Behindertenrechtsausschuss erstmals die Umsetzung der UN-BRK durch die Schweiz überprüft. Das Ergebnis war ernüchternd: Der Bericht hält fest, dass die Schweiz in vielerlei Hinsicht die Rechte der rund 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen verletzt. Insbesondere fehle der Schweiz eine umfassende Strategie zur Umsetzung der BRK. Die Uno empfiehlt der Schweiz zudem eindringlich, das fakultative Zusatzprotokoll der Konvention zu ratifizieren. Damit könnten Menschen mit Behinderungen ihre Rechte direkt vor dem BRK-Ausschuss geltend machen, falls ihre Beschwerde durch Schweizer Gerichte abgelehnt wurde.