Ende November ist es so weit: Das vielleicht grösste Sportspektakel der Welt findet am Persischen Golf in Katar statt. Die Bauarbeiten an den acht Stadien sind längst abgeschlossen, im Geschäftsbezirk West Bay werden regelmässig Hotels, Einkaufszentren und Firmenzentralen eröffnet. Dieses rasante Wachstum wäre ohne die Fussball-WM wohl undenkbar gewesen.
«Auf den WM-Baustellen hat sich einiges verbessert», sagt Dietmar Schäfers, der Katar oft besucht hat. «Aber dort, wo die Öffentlichkeit nicht so genau hinsieht, ist noch viel zu tun.» Seit Jahrzehnten reist der Gewerkschafter durch die Welt und macht sich für bessere Arbeitsbedingungen stark. Sein erster Besuch in Katar im Jahr 2013 hat ihn besonders bedrückt. Schäfers sah, wie sich viel zu viele Bauarbeiter in enge Unterkünfte zwängen mussten, ohne ausreichend Wasser und Lebensmittel. Er hörte, wie Arbeiter auf den Baustellen tödlich verunglückten oder erkrankten. «Viele erhielten zu wenig oder gar keinen Lohn», sagt Schäfers, Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiter-Internationalen (BHI). «Das kam moderner Sklaverei gleich, und ich war mir damals sicher: Wir sollten die Fussball-WM 2022 boykottieren.»
Unantastbare Elite
Expert*innen wie Schäfers sagen, dass in den ersten Jahren nach der WM-Vergabe an Katar 2010 wichtige Zeit für Reformen verloren gegangen sei. Die Erbmonarchie duldet keine unabhängigen Medien, Gewerkschaften, NGOs. Doch mit Kampagnen wie «Red Card for Fifa» richteten Gewerkschaftsbündnisse den Fokus auf das Land, Arbeitsorganisationen wie die Internationale Arbeitsorganisation ILO reichten Beschwerden ein. Berichte von europäischen Medien, Amnesty International und Human Rights Watch veranlassten einflussreiche Sportsponsor* innen zu kritischen Stellungnahmen.
Im Zentrum der Kritik stand das sogenannte Kafala-System, das in etlichen Staaten der Golfregion praktiziert wird: Als Bedingung für ihre Einreise erhielten die vorwiegend aus Südasien stammenden Arbeiter*innen einen Bürgen, der ihre Reisepässe einbehalten, ihre Ausreise erschweren und einen Jobwechsel verhindern konnte. «Bereits 2015 hat die katarische Regierung behauptet, dass das Kafala-System abgeschafft worden sei», sagt die Aktivistin Binda Pandey, die sich für die Rechte der rund 350 000 nepalesischen Arbeiter*innen in Katar stark macht. «Tatsächlich wurden viele neue Gesetze erlassen, aber häufig mangelt es an deren Umsetzung und Kontrolle.»
Viele Arbeitgeber*innen, die häufig auch eine familiäre Nähe zum Herrscherhaus haben, fühlen sich unantastbar. NGOs dokumentierten verschiedenste Verstösse gegen neue Gesetze, Reisepässe wurden einbehalten und zugesicherte Löhne nicht ausgezahlt. Die Angestellten wurden bedroht und an der Wahrnehmung von Gerichtsterminen gehindert. Die meisten leben in streng überwachten Unterkünften. Noch immer verlangen Rekrutierungsagenturen von den Arbeiter* innen zum Teil horrende «Vermittlungsgebühren », damit diese überhaupt eine Anstellung finden.
In den vergangenen sechs Jahren hat das Arbeitsministerium Richtlinien festgelegt, die europäischen Standards ähneln, etwa für Arbeitszeiten, Ruhephasen oder Beschwerdemöglichkeiten. «Viele Arbeiter*innen trauen sich jedoch nicht, gegen ihre Arbeitgeber*innen juristisch vorzugehen», sagt Binda Pandey. «Sie haben Angst, dass sie ausgewiesen werden und gar kein Geld mehr bekommen.»
Die Sportwelt wacht auf
Inzwischen existieren in Katar «Streitschlichtungsausschüsse», die zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmenden vermitteln sollen. Die ILO ist mit einem Büro in Doha vertreten, auch Gewerkschaftsverbünde sind für Inspektionen vor Ort. Bedingungen, wie sie Nachbarstaaten wie Saudi-Arabien nicht zulassen würden. Inzwischen sollen mehr als 20 000 Arbeiter*innen ihre ausgebliebenen Löhne erfolgreich eingeklagt haben, wobei diese Zahl nicht überprüfbar ist. Im Land leben aber rund 2,5 Millionen Arbeitsmigrant*innen, sie machen neunzig Prozent der Bevölkerung aus. «Die Ressourcen der Behörden sind nicht ausreichend», sagt Lisa Salza, Verantwortliche für Sport und Menschenrechte bei Amnesty Schweiz. «Die Beschwerdestellen in Katar können die Klagen nicht in angemessener Zeit bearbeiten.»
Es wird wohl Jahre dauern, bis sich der tatsächliche Einfluss der Fussball- WM auf Staat und Gesellschaft in Katar beurteilen lässt. Die Debatte hat in jedem Fall die Sportindustrie verändert. Anfang Juni nahm das deutsche Fussballnationalteam an einer Informationsveranstaltung mit kritischen Aktivist*innen teil – das wäre vor zehn Jahren unvorstellbar gewesen. Etliche Gastgeberstädte der Fussball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland arbeiten seit der Bewerbungsphase für ein Nachhaltigkeitskonzept mit Menschenrechtsorganisationen zusammen. Auch Austragungsorte der WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko gehen in diese Richtung.
«Die Diskussion um Katar wird hoffentlich dazu führen, dass Sportverbände die Vergabe von Grossereignissen frühzeitig an gewisse Bedingungen knüpfen », sagt Jonas Burgheim, Mitgründer des Zentrums für Menschenrechte und Sport. «Aber dabei darf es nicht bleiben. Profiklubs sollten auch auf die Produktionsbedingungen bei den Herstellern der Trikots ihrer Sponsoren schauen.» Die Fifa hat ein Menschenrechtskonzept erarbeitet und Menschenrechtskriterien für künftige von ihr ausgerichtete Turniere erlassen. Trotzdem verlegte sie ihre Klub-Weltmeisterschaft 2021 aus dem Corona-geplagten Japan in die Vereinigten Arabischen Emirate, die in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen hinter Katar stehen.
In der Region am Persischen Golf wird Katar von seinen grösseren Nachbarn kritisch beäugt. Die Herrscherhäuser in Saudi- Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten fürchten, dass sie durch die katarischen Reformen in Zugzwang geraten könnten. In den bis zur Weltmeisterschaft verbleibenden Wochen werden weitere Berichte zur Menschenrechtslage am Golf erscheinen. Doch die geopolitische Lage hat sich geändert: Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine bemühen sich westliche Demokratien wie Deutschland um Gaslieferungen aus Doha. «Es gibt in Katar konservative Kräfte, die die Reformen gern zurücknehmen würden», sagt Dietmar Schäfers, der längst nicht mehr von einem Boykott spricht. «Wir sollten die Zeit bis zum Anpfiff der WM nutzen, um weiter auf die Probleme aufmerksam zu machen.»