In diesem Haus fand die kambodschanische Polizei Opfer von Menschenhandel und Folter. © REUTERS/Cindy Liu
In diesem Haus fand die kambodschanische Polizei Opfer von Menschenhandel und Folter. © REUTERS/Cindy Liu

MAGAZIN AMNESTY Amnesty-Magazin März 2023: Kambodscha Im Netz des Syndikats

Von Mathias Peer. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2023.
In Südostasien zwingen Menschenhändler*innen ihre Opfer zum massenhaften Online-Betrug. Aktivist*innen werfen den Behörden vor, zu wenig dagegen zu unternehmen.

Das Angebot war zu verlockend, um es zu ignorieren: 1000 US-Dollar im Monat sollte Nop bekommen, dazu freie Kost und Logis. Mitten in der Pandemie, die die Wirtschaft seines Heimatlandes Thailand strangulierte, war der auf Facebook ausgeschriebene Job für den damals knapp 40-Jährigen ein Hoffnungsschimmer. Doch aus der Hoffnung wurde ein Albtraum. Nop wurde eingesperrt, erpresst und geschlagen. Monatelang lebte er in Angst. Inzwischen ist er wieder frei – doch andere versuchen nach wie vor, der Gewalt zu entkommen.

Nop, der seinen vollen Namen zum eigenen Schutz nicht nennen will, ist eines von Tausenden Opfern von Menschenhändler* innen, die ihr kriminelles Geschäftsmodell während der Coronakrise ins digitale Zeitalter gehoben haben – und Asiens Schwellenländer bis heute in Atem halten. Die Leute im Hintergrund, laut Behörden Verbrechersyndikate aus China, zwingen ihre Gefangenen zum massenhaften Online-Betrug im Schichtbetrieb. Wer zu wenig Geld erbeutet, wird bestraft. Wer entkommen will, riskiert sein Leben.

Angst und Scham

Beworben hatte sich Nop auf eine Bürostelle in einem Casino in Thailands Nachbarland Kambodscha. Als er Ende 2021 in der bei chinesischen Urlauber*innen beliebten Küstenstadt Sihanoukville ankam, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Er wurde in den vierten Stock eines Gebäudes gebracht, das ab diesem Moment zu seinem Gefängnis wurde. Die vermeintlichen Arbeitgeber*innen nahmen ihm seine Reisedokumente und sein Handy ab. «Ich wurde in einem Zimmer eingeschlossen », erzählt Nop Monate später vor Medienschaffenden im Bangkoker Auslandskorrespondentenclub. «Mir wurde in dem Augenblick klar: Ich war hereingelegt worden.»

Nops Aufgabe lautete, Landsleute in Thailand um ihr Erspartes zu bringen.

Nop trägt eine Baseballkappe und eine Atemmaske, die fast sein gesamtes Gesicht verdeckt. Er will nicht erkannt werden – nicht nur aus Angst vor den Kriminellen, über die er spricht, sondern auch aus Scham über das, wozu er in seinem halben Jahr Gefangenschaft gezwungen wurde. Als Teil der gigantischen Betrugsmaschinerie, die kriminelle Banden in Kambodscha errichtet haben, wurde er dazu gebracht, selbst zum Täter zu werden. Seine Aufgabe lautete, Landsleute in Thailand um ihr Erspartes zu bringen.

Die Methode war einfach, aber effektiv. Über gefälschte Profile in Dating- Apps nahm Nop Kontakt zu seinen Opfern auf. Nachdem er ihr Vertrauen gewonnen hatte, überzeugte er sie, Geld über manipulierte Online-Handelsplattformen zu investieren. Seine Aufseher*innen in der kambodschanischen Betrugsfabrik hätten von ihm verlangt, Tausende US-Dollar pro Monat einzutreiben – und mit Gewalt gedroht, sollte ihm das nicht gelingen, erzählt Nop.

Eine Ausbeutungsindustrie

Er und die Dutzenden Mitgefangenen in der kambodschanischen Casinoanlage waren nicht allein. Büroflächen für den erzwungenen Online-Betrug hatten sich zu dem Zeitpunkt längst über Sihanoukville, die Hauptstadt Phnom Penh und andere Gegenden in Kambodscha ausgebreitet. Über ähnliche Fälle wird inzwischen auch aus Laos und Myanmar berichtet. Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) schätzt, dass Tausende – wenn nicht Zehntausende – Menschen in Kambodscha zu Opfern wurden. Betroffen sind nicht nur Thailänder* innen: Die Menschenhändler*innen rekrutieren auch in Vietnam, auf den Philippinen, in Taiwan, Indonesien und Malaysia.

Wer ihnen ins Netz geht, wird in der Regel darauf angesetzt, Menschen in der jeweiligen Heimat in diverse Betrugsfallen zu locken – mal in Form vermeintlicher Investmentportale, mal mit manipulierten Glückspielwebseiten und mal als Unterstützung für vermeintliche Online- Liebhaber*innen. Lokale Polizeibehörden gehen davon aus, dass so seit Beginn der Coronakrise Hunderte Millionen Dollar erbeutet wurden.

Die Pandemie wirkte wie ein Katalysator für den Menschenhandel im Online- Betrug. In Sihanoukville, einem der Zentren der boomenden Ausbeutungsindustrie, sorgte eine dubiose Glücksspielindustrie lange Zeit für gute Einnahmen – vor allem chinesische Tourist* innen kamen zum Zocken. Viele der mehr als 100 über die Stadt verstreuten Casinos und Spielhallen haben laut dem Südostasien- Experten Jason Tower, der für das United States Institute of Peace in der Region arbeitet, Verbindungen zu kriminellen Netzwerken in China. «Als wegen der Pandemie keine Spieler*innen aus China mehr kommen konnten, hatten sie ein grosses Problem.» Die Hinterleute mussten sich deshalb neu orientieren, wie auch die UNODC feststellt: Der Online- Betrug wurde für viele zum neuen Hauptgeschäft.

«Man hat mir mit einem elektrischen Schlagstock ins Gesicht und auf den Rücken geschlagen.» Nop

Nop wollte damit nach eigenen Worten nichts zu tun haben. Doch seine Aufseher*innen sagten, sie würden ihn nur gegen eine Zahlung von umgerechnet knapp 4000 Franken wieder gehen lassen – eine Summe, die er unmöglich hätte auftreiben können, wie er später erzählt. Nop tat deshalb, was ihm befohlen wurde. Wegen der 24-stündigen Videoüberwachung hatte er nur gelegentlich den Mut und die Chance, Hilferufe abzusetzen. Eine Nachricht an die kambodschanischen Behörden versandete. Nop bekam zu sehen, wie ein Vietnamese, der fliehen wollte, misshandelt wurde. Nach mehreren Monaten flog auch Nop mit einem Versuch auf, Thailands Polizei zu alarmieren. Zur Strafe sei er in einen komplett abgedunkelten Raum eingesperrt worden, berichtet er. «Man hat mir mit einem elektrischen Schlagstock ins Gesicht und auf den Rücken geschlagen. Drei Tage bekam ich nichts zu essen.»

Von Folter bis Mord

Mehrere Opfer erzählten nach ihrer Freilassung von ähnlichen Misshandlungen. Es gibt auch Berichte, wonach sich Gefangene, die sich den Anweisungen widersetzt hätten, getötet worden sein. Die Betroffenen erlebten eine «Hölle auf Erden», in der es regelmässig zu Folter und Tod komme, sagte der für die Menschenrechtslage in Kambodscha zuständige Uno-Sonderberichterstatter Vitit Muntarbhorn im August in einer Uno-Mitteilung.

Nop verdankt seine Freiheit einer Gruppe von freiwilligen Helfer*innen der thailändischen Immanuel Foundation, die sich auf die Unterstützung von Menschenhandelsopfern spezialisiert hat. Im Juli vergangenen Jahres gelang es ihnen, Nop nach mehr als sechs Monaten wieder über die Grenze nach Thailand zu bringen.

Jaruwat Jinmonca, der Gründer der christlichen Stiftung, erzählt bei einem Treffen in einem Bangkoker Wohnhochhaus, wie er bei seinen Befreiungsaktionen vorgeht. Derzeit beschäftigt ihn der Fall von 27 Opfern aus Thailand, die noch immer in einem Gebäude in Kambodscha festgehalten werden und sich an ihn gewandt haben. Die kambodschanische Polizei sei keine Hilfe, sagt er. Und die Personen direkt aus der Gefangenschaft zu holen, sei zu gefährlich. Er wartet deshalb, bis die Menschenhändler*innen ihre Opfer an einen neuen Ort bringen – eine regelmässige Rotation der Festgehaltenen zwischen verschiedenen Anlagen sei üblich. «Ausserhalb ihrer Gebäude gelingt uns der Zugriff am leichtesten», sagt er. Die Menschenhändler* innen nutzten laut Jaruwat die Dienste gewöhnlicher Reisebusunternehmen, um die Opfer zu verlegen. Sie würden die Fahrt nicht begleiten, um sich selbst nicht der Gefahr einer Festnahme auszusetzen. Die Busfahrer, die zum Reiseunternehmen gehörten und nicht mit den Kriminellen unter einer Decke steckten, würden bei einem Stopp informiert und die Insassen kämen so kampflos frei.

Den kambodschanischen Behörden wirft Jaruwat vor, zu wenig gegen die kriminellen Machenschaften zu unternehmen. Im September kam es nach öffentlichem Druck zwar zu Razzien, bei denen rund 1000 Personen befreit wurden. «Korruption sorgt aber dafür, dass die Täter ungeschoren davonkommen – und immer wenn eine Anlage schliesst, macht eine neue auf», sagt Jaruwat. Die vereinzelten Festnahmen der vergangenen Monate beschränkten sich offenbar auf Personen mit untergeordneten Rollen in dem Menschenhandelsring.

Jaruwat fordert internationale Unterstützung, um den Sumpf trockenzulegen. «Nur wenn auf Kambodschas Regierung weltweit Druck gemacht wird, wird sich an der Situation etwas ändern», sagt er. Auch der Uno-Sonderberichterstatter Vitit Muntarbhorn betont, Kambodscha müsse Gegenmassnahmen mit grösserer Vehemenz ergreifen.

Für Nop ist die Tortur auch Monate nach seiner Freilassung noch nicht vorbei. Er wurde wegen seiner Verwicklungen in Online-Betrugsfälle in Thailand angeklagt – und muss nun vor Gericht beweisen, dass er Opfer und nicht Täter war.