Als Journalistin ist man in der Ukraine mit schrecklichen Bildern konfrontiert – aber auch mit der Widerstandskraft der Bevölkerung. © xDmytroxSmoliyenkox/imago
Als Journalistin ist man in der Ukraine mit schrecklichen Bildern konfrontiert – aber auch mit der Widerstandskraft der Bevölkerung. © xDmytroxSmoliyenkox/imago

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin März 2023: Ukraine Im Zentrum des Krieges

Von Maurine Mercier. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2023.
Vor knapp einem Jahr packte die Journalistin Maurine Mercier ihre Sachen, um nach Kiew zu ziehen. Doch was bedeutet es, als Korrespondentin in einem Land zu leben, das sich im Krieg befindet? Ein persönlicher Rückblick.

Am 24. Februar 2022, als Wladimir Putin versucht, die Ukraine an sich zu reissen, bin ich wie alle anderen ergriffen. Sehr schnell denke ich an die Babuschkas, die Grossmütter, die ich 2014 in Donezk kennengelernt habe und die nun gezwungen sind, alleine in einer zerstörten Stadt zu bleiben. Die ganze Welt hatte sie vergessen. Ich auch. Vergessen waren auch die Monate, die ich im Donbass verbracht hatte, die kleinen Häuser, die von den ständigen Bombenangriffen zerfetzt wurden, der Lärm der Explosionen, die bebende Erde.

Nach sechs Jahren in Nordafrika, in denen ich unter anderem über den Krieg in Libyen berichtet habe, beschliesse ich also, in die Ukraine zu ziehen. Nicht, um über einen neuen Krieg zu berichten: Ich wollte über den eigentlich gleichen Krieg berichten, den ich bereits acht Jahre zuvor entstehen sah. Schon im November 2014 hatte ich mich in Donezk in Vierteln bewegt, in die sich die OSZE-Beobachter*innen nicht mehr hineinwagten. Mein Fahrer Yuri brachte mich dennoch unter Risiken hin – wie gefährlich das war, erlebten wir denn auch sofort: Unversehens begegneten wir ukrainischen Soldaten, die anderen, viel besser ausgerüsteten Bewaffneten gegenüberstanden. Erst viel später wurde mir klar, dass wir damals auf Wagner-Milizen getroffen waren, die sich schon damals Strassenkämpfe mit der ukrainischen Armee lieferten, inmitten der in der Stadt eingeschlossenen Zivilist*innen.

Ich bin es nicht gewohnt, über mich selbst zu sprechen. Mein Beruf ist es, die Menschen, die den Krieg täglich erleben, sprechen zu lassen.

Ich bin es nicht gewohnt, über mich selbst zu sprechen. Mein Beruf ist es, die Menschen, die den Krieg täglich erleben, sprechen zu lassen. Wobei es ohnehin so gut wie unmöglich ist, von beiden Seiten zu berichten, obwohl man dies ja eigentlich müsste. Aber Russland erteilt ausländischen Journalist* innen ohnehin keine Visa.

In der Ukraine sieht man eine Bevölkerung, die sich selbst zu helfen weiss. Hier haben die Menschen schon vor Langem gelernt, dass man sich nicht auf den Staat verlassen kann, der bei vielen als ineffizient und korrupt gilt. Von den ersten Stunden an organisierten die Bürger*innen humanitäre Hilfe, die effizienter und schneller als jegliche staatliche Unterstützung war. Sie sammelten Geld und beschafften alles, bis hin zu Waffen für die Soldat*innen an der Front.

In der Ukraine zu leben, bedeutet nicht nur Widerstandsfähigkeit zu sehen, sondern auch die kollektive Traumatisierung mitzuerleben, die die 42 Millionen Einwohner*innen erfahren. Erst nach mehreren Monaten des Krieges sehe ich Menschen, die sich endlich erlauben zu weinen. Und auch zu lachen. Um das alles durchhalten zu können, muss man loslassen. So stehen zu Beginn dieses Jahres in einem Restaurant in Kiew wieder Komiker*innen auf einer kleinen Bühne. Das Publikum lacht – auch über den Krieg.

Als Korrespondentin in der Ukraine zu leben, bedeutet auch, so rasch wie möglich in gerade befreite Städte wie Butscha, Irpin, Cherson zu gelangen, um tagelang Aussagen der Zeug*innen zu sammeln. Von den überlebenden, erschöpften Zivilist*innen höre ich mitunter auch: «Ob die Ukraine oder Russland gewinnt, ist mir egal. Ich kann nicht mehr, ich will nur noch, dass der Krieg endet.»

Als Kriegsreporterin bin ich sowieso ständig mit schrecklichen Situationen konfrontiert, mit Leichen von Zivilpersonen, wie sie in Butscha auf den Strassen lagen. Mit toten Soldat*innen auf verminten Schlachtfeldern, die man manchmal erst Monate später findet, wie in Cherson. Bilder, die man lieber nie sehen würde.

Seit ich in der Ukraine lebe, habe ich viele Graubereiche gesehen. In der Stadt Mykolajew sagte mir ein ukrainischer Soldat angewidert: «Ja, es sind Ukrainer* innen, die die Koordinaten unserer Verstecke an die russische Armee weitergeben, die uns dann bombardiert. Und ja, wir benutzen Schulen, aber auch alle anderen grossen öffentlichen Räume, denn wir können ja nicht im Freien schlafen. Wir brauchen Räume, in denen wir uns verstecken können, und Küchen, in denen wir uns etwas zu essen machen können.» In Mykolajew befinden sich die Kinder seit Beginn des Krieges im Fernunterricht, da viele Schulen in Kasernen umgewandelt wurden. «Schauen Sie sich diese Schule an, zum Glück konnte uns der Geheimdienst warnen, bevor wir bombardiert wurden», sagt der Soldat und deutet auf die zerstörte Schule. Sie wurden von Nachbar*innen verpfiffen, die es leid waren, dass sich Soldaten in der Nähe versteckten.

In der kriegsgebeutelten Ukraine zu leben, kann aber auch heissen, in den Supermärkten der Hauptstadt Berge von Avocados und Litschis zu sehen, die neuesten Mobiltelefone... Hier funktionieren die Versorgungsketten fast wie früher. Es bedeutet aber auch, einen Soldaten zu sehen, der am Bahnhof von Kiew vor seiner zweijährigen Tochter niederkniet, um sich von ihr zu verabschieden. Und sich zu fragen, ob dieser Vater wiederkommen wird.

Die Ukrainer*innen mussten lernen, mit dem Krieg zu leben. Sie haben keine andere Wahl. 

Die Ukrainer*innen mussten lernen, mit dem Krieg zu leben. Sie haben keine andere Wahl. Viele Menschen leiden unter Hypervigilanz – einem durch Traumata ausgelösten Zustand erhöhter Wachsamkeit und Erregung. Die 25-jährige Lulia muss aus diesem Grund angstlösende Medikamente einnehmen. «Ich konnte nicht mehr schlafen», sagt sie. «Ich glaubte, die Sirenen zu hören und wollte meine Eltern wecken, damit sie sich in Sicherheit bringen. Ich war nicht mehr ich selbst und wurde manchmal aggressiv.» Die 9-jährige Olga, die seit fast drei Jahren die Schule im Fernunterricht besucht, erklärt mir: «Papa ist im Krieg. Ich habe Angst um ihn. Aber ich schreibe ihm Nachrichten. Ich habe aber Angst, dass er sie im falschen Moment liest und dadurch abgelenkt wird...» Olga hält sich ihre kleine, zur Pistole umfunktionierte Hand an den Kopf, um mir mit einem «Pschhht»-Geräusch symbolisch zu zeigen, wie er getötet wird.

Meine Arbeit ist oft kompliziert, so muss ich Beiträge teilweise um drei Uhr morgens schneiden, weil der Strom erst spät in der Nacht wieder angestellt wird. Ich werde immer wieder von dumpfen Explosionsgeräuschen geweckt und durchforste dann – wie die Ukrainer*innen – sofort die Telegram-Feeds, um herauszufinden, wo die Bomben einschlugen und ob es Opfer gibt. Im ersten Kriegsjahr habe ich bereits zwei Freunde verloren. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie es für die Menschen hier ist, die so viele Angehörige und Freund*innen verloren haben.