© André Gottschalk
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MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2023 - Brennpunkt Alles Gute zum Geburtstag!

Von Natalie Wenger. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2023.
Dieses Jahr feiert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ihren 75. Geburtstag. Sie ist bis heute Grundlage der Forderungen sozialer Bewegungen und Aktivist*innen nach Gleichheit und Menschenwürde.

Als meine Grossmutter jung war – in der Zeit des Zweiten Weltkriegs –, waren Grundrechte zwar ein Begriff, doch noch waren sie nirgends als für alle Menschen auf dem Planeten geltend kodifiziert worden. Ich dagegen kenne auch aufgrund meiner Arbeit kaum einen Text besser als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) – einen Text, der in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen feiert.

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg und seine Auswirkungen erlebt hat, ist sich noch sehr bewusst, was für ein Privileg die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte darstellte, als sie 1948 von der Uno-Generalversammlung verabschiedet wurde. Entstanden war sie aus dem Wunsch heraus, dass sich die Schrecken des Zweiten Weltkriegs nie wiederholen sollten. Nie wieder sollten solche Verbrechen an der Menschheit stattfinden können, nie wieder sollten die grundlegenden Rechte und Freiheiten der Menschen derart verletzt werden.

Als die Vorsitzende der Uno-Menschenrechtskommission und Gattin des ehemaligen US-Präsidenten Eleanor Roosevelt ih-re Unterschrift unter die universelle Menschenrechtsdeklaration setzte, geschah dies mit dem Ziel, allen Menschen auf der Welt jederzeit fundamentale Grundrechte zu garantieren. Damals hoffte man auf die heilende und transformative Kraft der AEMR für die Weltbevölkerung. Und tatsächlich beeinflusste die AEMR nationale Gesetze und Politiken weltweit: Sie ist bis heute Grundlage der Forderungen sozialer Bewegungen und Aktivist*innen nach Gleichheit und Menschenwürde, prägt unsere gesellschaftlichen Werte und bietet Anwält*innen und Politiker*innen ein wichtiges Instrument im Kampf für Gerechtigkeit.

Doch während die Generation meiner Grossmutter die AEMR feierte, stehen die jüngeren Generationen dieser oft mit Gleichgültigkeit gegenüber. Dabei wären wir gut beraten, den Text zu lesen und uns die Rechte einzuprägen. Denn leider werden die Grundsätze der AEMR bis heute immer wieder verletzt, manchenorts verschlechtert sich die Menschenrechtslage wieder zusehends, wie der Krieg in der Ukraine, die Niederschlagung der Proteste im Iran und in Venezuela, die Lage der Frauen in Afghanistan, die Verfolgung von LGBTI* in vielen Ländern zeigen: Vielerorts tun Staaten wenig, um die Einhaltung der AEMR zu gewährleisten. Doch die AEMR ist keine Option, sie ist eine Verpflichtung! Wenn China uighurische Muslim*innen verfolgt, wenn Peru gewaltsam gegen Protestierende vorgeht, wenn Europa Migrant*innen im Mittelmeer ertrinken lässt, dann geht uns das alle etwas an. Denn wer die AEMR unterzeichnet hat – und das sind praktisch alle Staaten –, der ist verpflichtet, die Menschenrechte zu wahren, auf der ganzen Welt. Für Menschenrechtsverletzungen Verant-wortliche müssen entsprechend verfolgt und vor Gericht gestellt werden.

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich die Situation verbessern lässt. Denn seit es die AEMR gibt, haben wir viel erreicht: Dank dem Engagement von Menschenrechtsverteidiger* innen auf der ganzen Welt konnten Regierungen für Gewaltakte zur Verantwortung gezogen werden, diskriminierende Gesetze wurden aufgehoben, die Todesstrafe wurde in vielen Ländern abgeschafft, Frauenrechte und Rechte von Minderheiten wurden ausgebaut.

Aus diesen Gründen werde ich den 75. Geburtstag der AEMR gebührend feiern – auch im Gedenken an meine Grossmutter, die mir beigebracht hat, wie wichtig es ist, für die eigenen Rechte zu kämpfen.