Schauplatz für Kulturkämpfe: Hauptlesesaal der New York Public Library. © Jose Giribas/Süddeutsche Zeitung/laif
Schauplatz für Kulturkämpfe: Hauptlesesaal der New York Public Library. © Jose Giribas/Süddeutsche Zeitung/laif

MAGAZIN AMNESTY Amnesty-Magazin September 2023: USA Aus den Regalen verbannt

Von Tobias Oellig. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom September 2023.
Immer öfter werden Bücher aus US-amerikanischen Schulbüchereien und Bibliotheken verbannt. Viele davon befassen sich mit Rassismus, LGBTI*-Themen – oder stammen von nicht weissen Autor*innen.

Am 6. Januar 2021 erlebten die USA mit dem Sturm auf das Kapitol das Crescendo einer gesellschaftlichen Spaltung, die Donald Trump über Jahre hinweg orchestriert hatte. Massen seiner Anhänger*innen marodierten im Kapitol und feierten ihre Zerstörungswut als Triumph über all jene, die sie verachteten: den Staat im Allgemeinen, die damalige demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, im Besonderen und vor allem jene, die ihnen angeblich die Wahl «gestohlen» hatten. Die Bilanz: mehrere getötete Menschen, verwüstete Büros und Bilder einer schwer beschädigten Demokratie, die um die Welt gingen.

An jenem Tag sass eine junge Schwarze Frau an ihrem Schreibtisch, sah die Bilder der Gewalt und liess die Eindrücke dieses dunklen Tages in die letzten Zeilen eines Gedichts fliessen. Zwei Wochen später, als Joe Biden als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wurde, betrat Amanda Gorman die Bühne und begegnete dem Hass, der ihrem Land so tiefe Wunden gerissen hatte, mit Poesie.

440458520_highres.jpg © Brendan Smialowski/AFP/Keystone

«Wir treten das Erbe eines Landes
und einer Zeit an,
da ein kleines, dünnes Schwarzes Mädchen,
Nachfahrin von Sklavinnen,
Kind einer
alleinerziehenden Mutter,
davon träumen kann, Präsidentin
zu werden, und
nun hier, heute, für einen Präsidenten vorträgt.»
Amanda Gorman, The Hill We Climb

Sie beschrieb Amerika als «nicht gebrochen, sondern einfach unvollendet», beschwor mit ihren Versen ein Land der Vielfalt, machte Mut und Hoffnung. Kaum fünf Minuten dauerte ihre Rezitation von «The Hill We Climb»; 723 Wörter, ein poetisches Angebot, die Waffen ruhen zu lassen und den ewigen American Dream gemeinsam zu erneuern.

In Florida wurde «The Hill We Climb» kürzlich für Grundschüler*innen verboten. Eine Mutter hatte beantragt, den Gedichtband aus der Schulbibliothek zu entfernen, weil er «keinen erzieherischen Wert habe». «Es erzeugt Verwirrung und indoktriniert Schüler», so die Beschwerde im Antrag. Gelesen hatte sie das Buch nicht, als Autorin von «The Hill We Climb» gab die Mutter irrtümlich die Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey an.

Eine Welle der Zensur

Amanda Gorman reagierte entsetzt; die Schulbehörde konterte, das Gedicht sei nicht verboten, der Zugang sei lediglich auf ältere Jahrgangsstufen begrenzt worden. Die Initiative «Florida Freedom to Read Project» (FFRP) kritisierte, ein Kompromiss, der den Zugang für einige Schüler*innen einschränke, sei «immer noch Zensur».

Seit 1990 sammelt der Büchereiverband American Library Association (ALA) Daten zu sogenannten «challenged books» – Büchern, deren Verbot entweder verlangt wurde oder tatsächlich erfolgte. 2022 gab es laut ALA so viele Zensurversuche in Schulen und öffentlichen Büchereien wie noch nie seit Beginn der Zählung. Mehr als 2500 Einzeltitel wurden zensiert und damit 38 Prozent mehr als im Vorjahr. Vermutlich sind die Zahlen noch viel höher, Expert*innen gehen davon aus, dass viele Bücher stillschweigend entfernt werden.

«Letztlich sind Versuche, Bücher zu verbieten, Versuche, Autor*innen zum Schweigen zu bringen, die grossen Mut aufgebracht haben, um ihre Geschichten zu erzählen», kommentierte ALA-Präsidentin Lessa Kanani’opua Pelayo-Lozada den Trend. Auf- fällig sei, dass die Zensurversuche häufig Werke beträfen, die sich mit Geschichte, Rassismus oder Sexualität befassten. Im Fokus stünden nicht zuletzt Bücher, die LGBTI*-Themen behandelten, Fragen rund um Rassismus, Ethnie und Hautfarbe thematisierten oder die von nichtweissen Autor*innen stammten.

Der Roman «The Bluest Eye» von Nobelpreisträgerin Toni Morrison, in dem die Schwarze Hauptfigur vergewaltigt wird: aus Schulbüchereien verbannt. Die mit dem Pulitzer- Preis ausgezeichnete Graphic Novel «Maus» von Art Spiegelman, die sich mit dem Holocaust befasst: verboten, weil darin Brüste zu sehen sind. Die Graphic Novel «Gender Queer» von Maia Kobabe, in der ein Teenager seine Geschlechteridentität sucht: verboten. «Stamped: Racism, Antiracism, and You», ein Sachbuch über die Geschichte von Rassismus und Sklaverei: verboten.

«Besorgte Mütter»: Alison Hair und Cindy Martin wollen, dass bestimmte Bücher aus Schulbüchereien verschwinden. © IMAGO/Jason Getz

In den Zensuranträgen finden sich Stichworte wie «Gender-Ideologie-Propaganda», «transsexuelles Material», «Übernahme einer Trans-Ideologie, die einen Angriff auf Mädchen/Frauen darstellt», «sexuelles Fehlverhalten», «Drogen-/Alkoholkonsum», «LGBTI*-Inhalte», «polizeifeindlich», «rassistisch », «obszön». «In den vergangenen 10 bis 13 Jahren sind LGBTI*-Bücher sexuell sehr anschaulich geworden», sagte Jennifer Pippin, Gründerin der rechtsgerichteten Initiative «Moms for Liberty», der Washington Post. Ihre Besorgnis sei keine Homophobie, betonte sie, es gehe ihr nur um den «sexuell expliziten» Charakter der Texte.

Adrian Daub, Professor an der Universität von Stanford, schreibt in einem Essay über Buchzensur: «Obwohl der Stein des Anstosses oft vordergründig einfach die Erwähnung von Sex ist, handelt es sich dabei häufig um ein Feigenblatt für Unbehagen, was Fragen von Race, Ethnie und alternativer Sexualität betrifft.»

Verbannung per Gesetz

Versuche, Bücher zu verbannen, haben in den USA Tradition und enden oft vor Gericht. Teilweise mit Erfolg: Dafür sorgt zum Beispiel Ron de Santis, Gouverneur von Florida, wo selbst in weiterführenden Schulen nicht mehr über Geschlechtsidentität gesprochen werden darf. Auch die kritische Auseinandersetzung mit systemischem Rassismus ist in den Schulen des Bundesstaats mittlerweile untersagt. De Santis macht Politik mit der Angst besorgter Eltern und hat ihnen per Gesetz die Macht über Bildungsfragen gegeben.

«Wir finden es wichtig, dass Bildung sich auf das Wesentliche konzertiert. Deshalb haben wir kritische Race-Theorie für alle Jahrgangsstufen verboten», sagt der Gouverneur. «Wir benutzen Ihre Steuergelder nicht, um Ihren Kindern beizubringen, unser Land zu hassen. Wir haben auch sichergestellt, dass Eltern die Lehrinhalte prüfen können, sodass sie wissen, was ihre Kinder lernen und Einspruch erheben können. » De Santis verspricht eine einfache und fromme Welt, in der vermeintlich «Andere » keinen Platz haben.

Neunzig Prozent der Zensuranträge, die 2022 eingingen, kamen von organisierten Gruppen. Einige enthielten Listen mit hundert oder mehr Büchern. Die Schriftsteller*innen- Vereinigung PEN America hält die zunehmenden Zensurversuche für eine organisierte Kampagne – und für zutiefst undemokratisch: «Es handelt sich nicht um isolierte Anfechtungen von Eltern in verschiedenen Gemeinden, sondern um organisierte Bemühungen von Interessengruppen und staatlichen Politiker*innen mit dem Ziel, den Zugang zu bestimmten Geschichten, Perspektiven und Informationen zu beschränken.»

Landesweiter Widerstand

Doch regt sich auch Widerstand: So unterzeichnete der Gouverneur von Illinois, J. B. Pritzker, kürzlich ein Gesetz, das öffentlichen Büchereien Zensur aufgrund «parteipolitischer oder dogmatischer» Vorbehalte untersagt. Bei Verstössen droht der Entzug staatlicher Mittel. In Missouri verklagten Schüler*innen die Behörde, die die Biografie des queeren Schwarzen Aktivisten George M. Johnson «All Boys Aren’t Blue» aus allen Schulbibliotheken entfernen liess. Es ist eines der am häufigsten verbotenen Bücher in den USA. An der New Yorker Brooklyn Library starteten Bibliothekar*innen die Initiative «Books Unbanned», die es Kindern und Jugendlichen landesweit ermöglicht, verbotene Titel kostenlos als E-Books zu lesen können.

Verbannte Bücher, ausgestellt in einem Buchladen in Kalifornien. © UPI/laif

Der Verlag von Amanda Gorman hat inzwischen gemeinsam mit PEN America Klage gegen die Schulbehörde von Escambia County (Florida) eingereicht. «Es wird immer wieder behauptet, es gehe darum, unsere Kinder vor Ideen zu schützen, die für sie zu fortgeschritten sind», kommentierte Amanda Gorman die Klage. «Aber wenn man sich die Mehrheit der Bücher ansieht, die tatsächlich verboten wurden, geht es eher darum, ein Bücherregal zu schaffen, das nicht alle Facetten der Vielfältigkeit Amerikas abbildet. Es ist, als würde man sagen: Sie sind fehl am Platz, wenn Sie Afroamerikaner* in sind. Sie sind fehl am Platz, wenn Sie schwul sind. Sie sind fehl am Platz, wenn Sie Migrant*in sind.»