Christina Daletska empfängt mich ungeschminkt in T-Shirt und Arbeitsklamotten; sie ist etwas erschöpft. Die berühmte Mezzosopranistin, die so gar nichts von einer Diva hat, hat soeben eine Ladung Medikamente in ihren Kleinwagen gehievt. Das sei jetzt ihr Alltag, sagt die 38-Jährige, die in der Ukraine aufgewachsen ist. Seit zehn Jahren ist sie Botschafterin der Schweizer Sektion von Amnesty International.
AMNESTY INTERNATIONAL: Was ging damals in Ihnen vor, als Sie vom Angriff Russlands auf die Ukraine hörten?
Christina Daletska: Mein erster Gedanke war: Wen rufe ich an? Denn sofort dachte ich an Benefizkonzerte. Natürlich musste ich mich erst über die Geschehnisse informieren. Heute tue ich das nur noch selten. Denn immer, wenn ich über den Krieg lese, quält mich das, es lässt mich nicht schlafen und ich werde weniger produktiv. Der Kriegsausbruch selbst war keine Überraschung – seit der Besetzung der Krim 2014 warnte die Ukraine davor.
Seit Kriegsbeginn unterstützen Sie Kriegsopfer und organisieren Hilfslieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten und anderem mehr.
Die Hilfe für die Ukraine wurde zu einem neuen Job, der mich permanent meine Grenzen spüren lässt. Als ich mir das erste Mal einige freie Tage gönnen wollte, kam prompt eine Anfrage nach Tourniquets rein – das sind Bänder, um Blutungen durch Abbinden zu stoppen. An diesen fehlt es massenhaft, sie sind lebensrettend. Also machte ich mich daran, sie aufzutreiben. Ich koordiniere in der Schweiz wie auch im Ausland das Sammeln und die Lieferungen von humanitären Hilfsmitteln jeglicher Art. Dies können auch scheinbar weniger wichtige Dinge sein – so beschaffte ich zum Beispiel eine Gitarre für einen Jungen im zerstörten Mariupol. Er wünschte sich diese so sehr, und mir war klar, dass das Instrument ihm gegen die Traumatisierung helfen würde.
Wie finanzieren Sie diese Hilfe?
Hauptsächlich mit Ansprachen und Spendensammlungen bei meinen Auftritten. Direkt nach Kriegsausbruch brachte dies erfreulich viele Spenden ein, alle wollten helfen. Ich habe sämtliche privaten und beruflichen Kontakte angezapft. Aber leider sind wir inzwischen an dem Punkt angekommen, wo die Solidarität zurückgeht – es ist kaum mehr möglich, Spenden aufzutreiben. nur noch eine grosszügige Gönnerin hilft weiterhin. Und der Krieg hört nicht auf.
Wie gelangen die Hilfsgüter in die Ukraine?
Kurz nach Kriegsbeginn begegnete mir per Zufall Svitlana Grytsyshyn, eine mutige Medizinerin, die in Deutschland lebt. Sie fährt die Hilfsgüter bis in die gefährlichsten Gebiete und setzt sich dabei grossen Risiken aus. Das Organisieren von Geländewagen wird allerdings immer schwieriger; sie sind kaum mehr günstig zu beschaffen. Inzwischen habe ich ein Netz von Organisationen und Einzelpersonen, mit denen ich zusammenarbeite; auch meine Mutter, die in Lviv wohnt, war bereits mehrmals als Freiwillige unterwegs. Ein Bekannter in der Schweiz kümmert sich um ukrainische Kinderheime und sammelt Textilien, aus denen die Kinder nach der Schule Tarnnetze basteln. Diese Netze sind unglaublich wichtig, wie natürlich auch Medikamente, medizinische Ausrüstung und haltbare Lebensmittel. Blockiert ist die zivile Hilfe, wenn es darum geht, Schutzwesten und anderes lebensrettendes Material zu organisieren, deren Ausfuhr «aus Gründen der Schweizerischen Neutralität» verboten ist.
Kommen wir nochmals zu den Benefizkonzerten. Ihnen ist wichtig, dass auch russische Künstler*innen teilnehmen. Führt das nicht zu Protest – gerade von ukrainischen Kolleg*innen?
Es gibt Leute, die es ablehnen, zusammen mit Russ*innen auf der Bühne zu stehen. Ich erachte es aber als absolut unfair, Russ*innen, die den Krieg scharf verurteilen, auszuschliessen. In solchen Diskussionen frage ich jeweils: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie dafür bestraft würden, per Zufall einen russischen Pass zu haben, wenn Sie doch den Krieg und die Politik Russlands ablehnen?
Für russische Prominente ist es aber nicht ungefährlich, sich kritisch zu äussern – selbst im Ausland.
Es ist Krieg! Da darf man nicht still bleiben. Von den Privilegierten, die Russland verlassen konnten, muss man fordern, dass sie Stellung beziehen. In Russland selbst gibt es so viele, die sich trotz Risiken mutig gegen den Krieg äussern; sie sind es, die einen hohen Preis bezahlen.
Wie ist die Lage der Musiker*innen in der Ukraine? Stehen Sie in Kontakt?
Den meisten Künstler*innen geht es gut, sie können reisen, auf Tournee gehen. Es gibt für sie natürlich auch Einschränkungen, ihre Sorgen sind aber nicht vergleichbar mit denjenigen der Leute, die in den Kriegsgebieten ausharren. Für die Menschen in der Ukraine ist es sehr wichtig, dass es weiterhin kulturelle Anlässe gibt. Der Festivalleiter von Lviv, mit dem ich regelmässig im Austausch bin, sagt immer: «Wir versuchen einfach, so normal wie möglich weiterzuleben. Wir können nicht permanent Angst haben.»
Ihr Engagement ist ja nicht nur in Ihrer ukrainischen Herkunft verwurzelt; Sie waren schon immer in der Menschenrechtsarbeit aktiv und sind seit zehn Jahren Botschafterin von Amnesty Schweiz.
Ich lehnte mich schon immer gegen Ungerechtigkeiten auf. Mir ist klar, dass ich nicht viel verändern kann, aber ich möchte zumindest meine Möglichkeiten ausschöpfen. So ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, dass ich Amnesty unterstütze. Gerade die Welt der klassischen Musik ist politisch ja nicht sehr engagiert; das zumeist gebildete und bessersituierte Publikum für die Menschenrechte zu interessieren, macht für mich daher viel Sinn.
Erleben Sie nicht auch Kritik, wenn Sie Auftritte für Ihre Anliegen benutzen?
Die Reaktionen des Publikums waren erfreulicherweise stets positiv, gerade was Aufrufe zur Unterstützung von Amnesty betrifft. Schwieriger ist es gelegentlich mit Veranstalter*innen. «Wir sind doch nicht politisch», heisst es manchmal. Dann versuche ich zu überzeugen oder suche nach anderen Möglichkeiten... Bei Solidaritätsaktionen für die Ukraine kommt es inzwischen leider immer öfter vor, dass Veranstalter*innen lieber nicht Position beziehen möchten. Bei einem Konzert habe ich das Problem auf meine Weise gelöst: Statt wie alle anderen in schwarzer Abendrobe aufzutreten, habe ich mich in eine ukrainische Fahne gewickelt und bin dann so als Solistin auf der Bühne gestanden. Die Direktion war nicht erfreut, das ist aber nicht mein Problem.
Sie treten nicht in Ländern auf, in welchen die Todesstrafe angewandt wird – Engagements in den USA und in Japan lehnen Sie somit ab.
Einige Kolleg*innen sagen, dass ich doch gerade in solchen Ländern auftreten und für die Menschenrechte sprechen sollte. Dieses Argument hat etwas für sich, aber bis jetzt wollte ich meinem Prinzip treu bleiben. Sowieso reise ich aus ökologischen Gründen wenn immer möglich mit dem Zug, da fallen Amerika und Asien ohnehin weg. In Europa gibt es für mich genug zu tun.