«Ich weiss jetzt, wie Tränengas schmeckt», sagt Anna Annanon. Die 17-jährige Studentin ist Mitglied der Bad Students, einer Bewegung von etwa 20 Jugendlichen, die mehr Demokratie und eine grundlegende Reform des Schulsystems in Thailand fordern. «Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der ich meine Meinung frei äussern kann», sagt Anna.
Im Februar 2020 gingen Tausende Thailänder*innen auf die Strasse und verlangten den Rücktritt des damaligen Premierministers Prayut Chan-o-cha, eine Änderung der Verfassung sowie eine Reform der Monarchie. Seither dauern die Proteste an. Getragen von dem Free Youth Movement, stehen Sechzehnjährige, manchmal sogar erst Zwölfjährige an vorderster Front. «Wir haben es mit einer sehr politisierten Generation zu tun. Auf den sozialen Netzwerken hat sie eine kritische Haltung gegenüber der Monarchie entwickelt. Bisher war es ein Tabu, die Monarchie infrage zu stellen», sagt Akarachai Chaimaneekarakate von den Thai Lawyers for Human Rights (TLHR).
«Es ist ein Skandal, dass Kinder hinter Gittern landen, nur weil sie das System oder den König in Frage stellen», Anna Annanon
Majestätsbeleidigung wird bestraft
Das Engagement der Jugendlichen hat für diese allerdings Konsequenzen: Laut TLHR wurden bisher mehr als 286 Minderjährige wegen Missachtung des Notstandsdekrets, das im Zusammenhang mit Covid- 19 erlassen wurde, wegen Aufruhrs oder wegen Beleidigung der Monarchie strafrechtlich verfolgt. «Es ist ein Skandal, dass Kinder hinter Gittern landen, nur weil sie das System oder den König in Frage stellen», sagt Anna Annanon.
Seit seiner Thronbesteigung hat König Vajiralongkorn, auch Rama X. genannt, seine politische Macht stetig ausgebaut. Er hat die direkte Kontrolle über das «Amt für Kronbesitz» übernommen, das die königlichen Güter und Finanzen verwaltet. Dem Militär erteilte er die Befugnis, die 250 Mitglieder des Senats zu wählen, die an der Ernennung des Premierministers beteiligt sind.
Das Porträt des Königs hängt in den Klassenzimmern, die Leistungen der Monarchie stehen auf dem Lehrplan, die königliche Hymne wird vor dem Kinobesuch gesungen. Beliebt ist er wegen seines ausschweifenden Lebensstils und weil er während der Covid-Pandemie nach Deutschland flüchtete, nicht gerade. Wer es wagt, den Monarchen oder seine Familie zu «verleumden», zu «kritisieren » oder zu «bedrohen», riskiert zwischen 3 und 15 Jahren Gefängnis. «Der Straftatbestand der Majestätsbeleidigung existiert seit 1956, breit angewandt wurde er aber vor allem während der Proteste im Jahr 2020», sagt Tawan Rattanaprapaporn, Menschenrechtsverteidiger bei der NGO Forum-Asia, die sich für die Förderung der Demokratie in Südasien einsetzt. «Das Gesetz ist zu einer politischen Waffe geworden.»
Auf Facebook die Abschaffung des Straftatbestands der «Majestätsbeleidigung » fordern, ein Crop-Top tragen, um sich über ein Outfit des Königs lustig zu machen: In Thailand braucht es nicht viel, um mit der Justiz in Konflikt zu geraten. Für einen Kalender mit Bildern gelber Gummienten, dem Widerstandssymbol der Protestbewegung, ist ein Mann zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Er habe damit den König beleidigt.
Die Demonstrationen von 2020 sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen repressiven Politik. In den vergangenen 100 Jahren hat Thailand 18 Staatsstreiche erlebt, von denen 12 erfolgreich waren. Der Auslöser der jüngsten Proteste war die Auflösung der New Future Party Anfang 2020. «Die Jugend setzte grosse Hoffnungen in diese Oppositionspartei, was sich auch in den Ergebnissen der allgemeinen Wahlen widerspiegelte. Sie war frustriert, weil die Behörden ihre Macht missbrauchten und die demokratischen Grundlagen abbauten», sagt Tawan Rattanaprapaporn.
Neben politischen Veränderungen fordert die Jugend eine Reform des Bildungssystems, das sie für traditionalistisch und paternalistisch hält. Anna Annanons langes rotes Haar entspricht nicht den strengen Vorschriften, die an thailändischen Schulen gelten. «Mädchen und Jungen müssen ihre Haare auf eine bestimmte Länge schneiden. Färben, Piercings und Tätowierungen sind verboten. Wer nicht der Linie folgt, muss Demütigungen und manchmal auch Gewalt über sich ergehen lassen», sagt die junge Aktivistin. Dies gelte in besonderem Mass auch für LGBTI*- Schüler*innen.
Verstösse gegen Kinderrecht
Die Verhaftung, Unterdrückung und Verurteilung von Teenagern verstösst gegen mehrere internationale Konventionen, die Thailand ratifiziert hat. Dazu gehören das Recht auf freie Meinungsäusserung, das im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte verankert ist, und das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, das die Festnahme oder Inhaftierung von Minderjährigen nur als «letztes Mittel und für eine möglichst kurze Dauer» erlaubt.
Der Fall von Yok zeigt jedoch eine andere Realität: Die 14-jährige Aktivistin wurde im März bei einer friedlichen Demonstration festgenommen. «Yok wurde von der Polizei gewaltsam weggeschleppt, danach 51 Tage in Untersuchungshaft gesteckt. Sie stiess auf zahlreiche Hindernisse, als sie einen Rechtsbeistand kontaktieren wollte», sagt Tawan Rattanaprapaporn. «Die Behörden üben auch Druck auf die Jugendlichen aus, um sie dazu zu bringen, sich schuldig zu bekennen. Viele weigern sich jedoch, weil sie davon überzeugt sind, nichts Falsches getan zu haben», fügt Akarachai Chaimaneekarakate hinzu. Anna Annanon hat dies selbst erlebt: «Die Polizei fährt mit Streifenwagen vor die Schulen, um die jungen Aktivist*innen einzuschüchtern. Ich wurde auf dem Nachhauseweg oder nach Restaurantbesuchen mit Freundinnen regelmässig verfolgt. Man hat auch schon meine Eltern und Grosseltern angerufen oder besucht, um sie dazu zu bringen, mich von der Teilnahme an Demonstrationen abzubringen.»
«Bei Demonstrationen auch gegen Jugendliche Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt.» Akarachai Chaimaneekarakate, Thai Lawyers for Human Rights (TLHR)
Minderjährige seien auch von Polizeigewalt betroffen. «Wir haben beobachtet, dass die Polizei kein kinderspezifisches Prozedere anwendet», sagt Akarachai Chaimaneekarakate. «So werden bei Demonstrationen auch gegen Jugendliche Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt. » Auch Amnesty International bestätigte in einem im Februar 2023 veröffentlichten Bericht, dass Teenager Schusswunden, Schläge und Gewalt durch Kabel erlitten hatten.
Für viele Expert*innen befindet sich Thailand an einem historischen Wendepunkt. Im vergangenen Mai gewann die Oppositionspartei Move Forward die Parlamentswahlen haushoch. Sie hat die Wähler*innen mit ihren Reformversprechen überzeugt − insbesondere, was das Verbrechen der «Majestätsbeleidigung» betrifft. Der Senat lehnte jedoch die Ernennung des Parteivorsitzenden zum Premierminister ab. Nach einer monatelangen Pattsituation erhielt der konsensorientierte Politiker Srettha Thavisin am 22. August dank umstrittener Bündnisse die nötige politische Unterstützung, was allerdings wenig förderlich für die von der Bevölkerung geforderten tiefgreifenden Reformen zu sein scheint. Je nachdem, wie sich die Ereignisse entwickeln, rechnet Tawan Rattanaprapaporn mit einer neuen Welle von Demonstrationen. «Die junge Generation will nicht mehr, dass die Macht in den Händen der alten Eliten konzentriert ist», sagt er. «Sie ist bereit, Risiken einzugehen, um den Status quo zu durchbrechen.»