Vincent Molettieri zeigt stolz seinen Lebenslauf. Durch die Coronakrise verlor er seine Arbeit. © Rémi Carlier
Vincent Molettieri zeigt stolz seinen Lebenslauf. Durch die Coronakrise verlor er seine Arbeit. © Rémi Carlier

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin Juni 2024 – Schweiz Armut, ein Tabu

Von Rémi Carlier. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom Juni 2024.
In der Schweiz leben mehr als 700'000 Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Eine Realität, die in diesem Land – einem der reichsten Länder Europas – zu wenig beachtet wird. Eine Reportage aus Freiburg i. Ue.

«Vor nicht allzu langer Zeit landete alles, was von meinem Leben übriggeblieben war, in einem Koffer. Dabei habe ich immer gearbeitet», sagt Vincent Molettieri. Offenbar hat er das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Er hat sogar seinen Lebenslauf mitgebracht, den er stolz vorzeigt. Als selbstständiger Coiffeur hatte er die Covid-Krise heftig zu spüren bekommen und musste sich verschulden. «Das war der Anfang der Abwärtsspirale. Ich hätte nicht gedacht, dass man in der Schweiz nicht genug zu essen haben kann. Aber so ist es.»

Der 45-Jährige ist wütend, aber auch nachdenklich. Er ist einer von rund 50 Personen, die an diesem späten Vormittag in den grossen Raum mit Kantinencharakter gekommen sind, um eine warme Mahlzeit zu sich zu nehmen und einen Kaffee zu trinken. Im Obergeschoss ruhen sich einige erschöpfte Männer auf Sesseln aus, die Decke über die Augen gezogen, nachdem sie die Nacht im Freien oder bei der Arbeit verbracht haben. Sie sind jung oder alt, aus der Schweiz oder von anderswo, nichts unterscheidet sie wirklich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich in einer prekären Situation befinden. In diesem weissen Haus im beliebten Viertel Schönberg in Freiburg i. Ue. bietet ihnen der Verein Banc Public eine ruhige Ecke, wo sie zu sehr günstigen Preisen essen können, einen Ort des Austauschs und vor allem des Zuhörens.

«Ich hätte nie gedacht, dass ich hier auf Menschen treffen würde, die ich kenne. Armut ist ein Tabuthema.» Ludovic Domon, Sozialarbeiter bei Banc Public

«Ich habe vor drei Jahren angefangen, hier zu arbeiten. Ich hätte nie gedacht, dass ich hier auf Menschen treffen würde, die ich kenne. Armut ist ein Tabuthema», sagt der 27-jährige Ludovic Domon, Sozialarbeiter bei Banc Public. In der Tat ist die Not dieser Menschen in der Schweiz nicht immer sichtbar. Hierzulande, wo Misserfolg oft als persönliches Scheitern gesehen wird, zieht man es vor, so zu tun, als gäbe es keine Armut.

Die neuesten Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen aber, dass im Jahr 2021 8,2 Prozent der Schweizer Bevölkerung (fast 702 000 Personen) unterhalb der Armutsgrenze lebten, darunter 144 000 Erwerbs tätige. Die Covid-Pandemie hat einen Teil dieser Realität ans Licht gebracht, etwa durch die langen Warteschlangen für kostenlose Lebensmittel in Genf oder Zürich. Die Pandemie hat die finanziellen Schwierigkeiten eines Teils der Bevölkerung, vor allem von Rentner*innen und Alleinerziehenden, zusätzlich verschärft. Seitdem hat sich nicht viel getan, abgesehen von einer Mehrbelastung bei den Hilfsorganisationen.

Falsche Vorstellungen

Es gibt in der Schweiz eine grosse Unkenntnis in Bezug auf die Armut. Betroffene Menschen werden immer noch für ihre Situation verantwortlich gemacht, obwohl weitgehend erwiesen ist, dass Armut eher strukturell als individuell bedingt ist. Diese Vorstellungen liessen sich nur schwer ändern, bestätigen Caroline Reynaud und Sophie Guerry, Professorinnen an der Hochschule für Soziale Arbeit (HETS) in Freiburg.

Vincent Molettieri hat dies am eigenen Leib erfahren. Seine Schwester, die bei der Post arbeitet, gestand ihm, dass sie nicht wusste, dass es in der Schweiz von Armut betroffene Menschen gibt. Seine Eltern ermutigten ihn, sich aus eigener Kraft aus der Misere zu befreien. Er selbst hatte Schwierigkeiten, seinen Stolz zu überwinden. «Im Betreibungsamt, wo ich Rat und Hilfe suchte, wurde ich wie ein Tier behandelt. Ich war auf die ganze Welt wütend», sagt er. «Man sagte mir, ich solle Sozialhilfe beantragen. Aber das löst kein Problem, sondern verlagert es nur. Ich mache lieber Gelegenheitsjobs und versuche, mich selbst durchzuschlagen. Ich will nicht als Profiteur angesehen werden.»

«Es ist an der Zeit, Armut als strukturelles Problem anzugehen.» AnneClaire Brand, ATD Vierte Welt

Für einen Forschungsbericht, der 2023 von der NGO ATD Vierte Welt veröffentlicht wurde, untersuchten von Armut betroffene Personen, Fachleute aus dem Sozialbereich und Wissenschaftler* innen, was es bedeutet, heute in der Schweiz in Armut zu leben und auf institutionelle Unterstützung angewiesen zu sein. «Die Reaktion der Institutionen auf Menschen in Armut wird immer noch zu oft als übergriffig erlebt, die Menschen werden nicht in ihrer Lebensrealität gesehen und nicht in ihrer Identität respektiert», sagt AnneClaire Brand von der NGO. «Es ist an der Zeit, Armut als strukturelles Problem anzugehen.»

Mangel an Mitteln

Wie in der ganzen Schweiz ist in Freiburg hauptsächlich der Kanton für soziale Angelegenheiten zuständig. Nach der Pandemie war der Wille da, etwas zu bewegen, so mit der Gründung einer Lebensmittelbank und eines Büros, um die Betroffenen über ihre Rechte auf Sozialleistungen zu informieren. Doch es fehlten die Mittel oder sie wurden falsch zugeteilt. «Wir haben festgestellt, dass Armut nicht wirklich auf der politischen Agenda steht», sagt Anne-Claire Brand. Die kantonale Direktion für Gesundheit und Soziales hatte auf Anfragen nicht geantwortet.

So bleibt die Sozialhilfe, die subsidiär und bedarfsabhängig gewährt wird, das letzte Sicherheitsnetz. Aber Freiburg wie auch St. Gallen, Thurgau und Aargau verlangt weiterhin eine Rückerstattung, sobald die unterstützte Person in eine bessere finanzielle Lage kommt. «Diese Pflicht erinnert an die Voraussetzung an jede und jeden, alles dafür zu tun, um aus eigenen Mitteln für den eigenen Bedarf aufzukommen. Die Rückerstattungspflicht soll dazu anregen, nur als letztes Mittel auf die Sozialhilfe zurückzugreifen », heisst es in einem Bericht des Kantons Freiburg, der im November 2023 veröffentlicht wurde.

Karine Donzallaz sieht angesichts dieser Worte rot. Die 44jährige Freiburgerin verlor 2018 aufgrund einer Krankheit ihren Job und hatte keine andere Wahl, als Sozialhilfe zu beantragen, die sie zwei Jahre lang bezog. «Mit 800 Franken im Monat (Miete und Krankenversicherung werden separat finanziert) habe ich versucht, irgendwie weiterzumachen. Das führt in die Isolation. Das Sozialwesen ist von Vorurteilen und Stigmatisierungen durchzogen. Alles muss gerechtfertigt werden, immer und überall. Man verliert seine Würde und seinen freien Willen. Die Rückzahlungen führen dazu, dass man weiter in Armut bleibt», sagt sie. Karine Donzallaz erhielt schliesslich eine Invaliditätsrente, mit der sie ihre Schulden bei den Sozialämtern begleichen konnte. Nun engagiert sie sich im Collectif Dignité, das sich in Freiburg für die Abschaffung der Rückzahlungspflicht einsetzt. 


«Während der Pandemie wurden auch viele Menschen zu Betroffenen, die dachten: ‹Armut kann mir nie passieren›.»  Anne-Pascale Collaud, Leiterin des Dienstes für soziale Beratung und Begleitung bei Caritas Freiburg

Inflation, steigende Krankenkassenprämien und Mieten bieten keine rosigen Aussichten. «Während der Pandemie wurden auch viele Menschen zu Betroffenen, die dachten: ‹Armut kann mir nie passieren›», sagt Anne-Pascale Collaud, Leiterin des Dienstes für soziale Beratung und Begleitung bei Caritas Freiburg. Im Jahr 2023 erreichte der nationale Umsatz der Caritas-Märkte 17,8 Millionen Franken, 11 Prozent mehr als beim bisherigen Rekordwert von 2022. Immerhin nehmen auch die Spenden an den Verein zu – aus Solidarität. Vielleicht zeigt dies, dass das Tabu allmählich keines mehr ist.