Die Wut ist gross: Überlebende demonstrierten auch am 27. Jahrestag der Katastrophe in Bhopal gegen das Unternehmen Dow Chemicals. © Rafiq Maqbool / AP / Keystone
Die Wut ist gross: Überlebende demonstrierten auch am 27. Jahrestag der Katastrophe in Bhopal gegen das Unternehmen Dow Chemicals. © Rafiq Maqbool / AP / Keystone

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin September 2024 – Indien Der Kampf um Gerechtigkeit geht weiter

Von Natalie Mayroth. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom September 2024.
Auch vier Jahrzehnte nach der verheerendsten Industriekatastrophe, die Indien erlebt hat, leiden die Menschen an den Folgen – doch sie geben nicht auf in ihrem Kampf um Gerechtigkeit.

Die rostigen Ruinen der Union-Carbide- Pestizidfabrik sind ein Mahnmal im Stadtbild von Bhopal, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Madhya Pradesh. Sie erinnern an das verheerende Chemieunglück, dass sich hier in der Nacht auf den 3. Dezember 1984 ereignete. 27 Tonnen hochgiftiges Methylisocyanat (MIC) traten damals aus einem Tank der Fabrik aus, die zum US-Unternehmen Union Carbide Corporation (UCC) gehörte. Das Giftgasgemisch verbreitete sich in der schlafenden Stadt. Mehr als eine halbe Million Menschen waren ihm ausgesetzt. «Meine Augen brannten, als hätte mir jemand Chilipulver in die Augen gestreut», erinnert sich der heute 71-jährige Tulsi Kumar.

Der Insektizidbestandteil Methylisocyanat ist eine farblose, toxische und leicht flüchtige Flüssigkeit. Beim Menschen verursacht MIC schwere Verätzungen der Schleimhäute und greift innere Organe an. In jener Nacht legte sich eine Wolke des tödlichen Gases – ein Zwischenprodukt bei der Herstellung von Pflanzenschutzmitteln – über Bhopal und tötete Tausende Menschen sofort.

In der Siedlung Jai Prakash Nagar, nur wenige Meter von der Fabrik entfernt, brach Panik aus. Tulsi verriegelte die Tür seines Hauses. «Ich hörte das Chaos um mich herum: Schreie, Schritte, Dinge, die zu Bruch gingen», sagt er. Er schloss sich mit seinen drei kleinen Kindern und seiner schwangeren Frau im Haus ein. Es waren Stunden voller Angst. «Am nächsten Morgen kamen Regierungsbeamte und gaben uns Augentropfen, aber sie linderten den Schmerz nicht.» Vorübergehend wurde die Familie evakuiert. Erst nach und nach wurde klar, wie viel seine Familie erleiden würde und dass Tulsi bis ins hohe Alter davon belastet bleibt.

Zehntausende Tote

Bis zu 150'000 Menschen leiden bis heute unter den Spätfolgen.

In den ersten Tagen starben bis zu 10'000 Menschen, 22'000 weitere verloren ihr Leben vorzeitig als direkte Folge der Katastrophe. Bis 150'000 Menschen leiden bis heute unter den Spätfolgen.

In einem hellblau-rosa gestrichenen Häuschen lebt Tulsi Kumar bis heute in der Nähe des Unfallorts. Das erste Kind in seiner Familie starb sieben Monate nach dem Unglück. Tulsi zieht seine Enkelkinder gemeinsam mit seiner Schwiegertochter gross, auf deren Einkommen als Haushälterin die Familie angewiesen ist. Zehn Jahre nach dem Chemieunfall konnte Tulsi, der Hauptverdiener der Fa- © Rafiq Maqbool / AP / Keystone milie, aufgrund gesundheitlicher Probleme keine schwere körperliche Arbeit mehr verrichten. Manchmal schneidet er mit den Kindern Gemüse oder Obst für Eingelegtes, um etwas zusätzliches Geld zu verdienen. Ein Gefühl der Ohnmacht begleitet ihn.

Nach Jahren des Wartens erhielt die Familie schliesslich Entschädigungszahlungen, doch sie reichten nicht aus, um die medizinischen und persönlichen Kosten zu decken. Denn auch zwei Generationen später sind die Folgen der Katastrophe noch spürbar. Die beiden Enkeltöchter, die bereits im Teenageralter sind, sind kleinwüchsig. An diesem Nachmittag rennen sie fröhlich kreischend herum, sie sehen aber wesentlich jünger aus, als sie sind. «Zu jedem Jahrestag des Unglücks stelle ich mir die Frage, wie die nächste Generation überleben wird», sagt Tulsi Kumar.

Tulsi, der sein Gesicht lieber nicht zeigen möchten, erzählt von den anhaltenden Folgen des Unglücks. © Natalie Mayroth

Trauer um Verstorbene gibt es in jedem Haus in der Siedlung. Noorjahan war zum Zeitpunkt des Unglücks gerade Mutter geworden. Ein Freund der Familie, der im Werk tätig war, warnte sie noch in der Nacht: «Er kam schreiend zu uns», sagt sie. Sie sollten das Haus sofort verlassen, riet er. Als sie zurückkehrten, war alles mit einer weissen Schicht überzogen. Noorjahans Neugeborenes erkrankte schwer, sein Körper war nach dem Unfall angeschwollen. Oft musste der Kleine ins Krankenhaus, unter anderem zur Dialyse. Er überlebte, starb aber in seinen Dreissigern.

In einem blauen Hefter bewahrt Noorjahan Entschädigungsnachweise, Krankenbelege und Sterbeurkunden auf. «Eigentlich hätten wir ein Anrecht auf eine Entschädigung von 25 000 Rupien (1430 CHF) für mein Baby gehabt», sagt sie. Doch ihr Anspruch wurde ihr verweigert, stattdessen erhielt sie eine Zahlung über 1000 Rupien (etwa 55 CHF). Als das Geld nicht mehr reichte, verkaufte sie ihren Goldschmuck.

«Viele hier sind auf Gelegenheitsjobs angewiesen», sagt sie. «Was uns helfen würde, wären Arbeitsplätze für meine Kinder, für meine Enkelkinder», sagt die 60-Jährige. Die Familie musste in der Siedlung bleiben, stets mit der Vergangenheit konfrontiert.

 

Falsche Angaben

Auch Divya Kishor Satpathy wird den 3. Dezember 1984 niemals vergessen. Als der damals 35-jährige Arzt im Hamidia-Spital eintraf, rangen Hunderte von Menschen nach Luft. Andere waren bereits tot. Auf Karren und in Lastwagen wurden sie zu Hunderten vom Unfallort abtransportiert. Vor Ort wussten die Ärzt*innen zunächst nicht, wie man die Kranken behandeln sollte, was genau mit ihnen geschehen war. «Mir wurde gesagt, dass selbst der Arzt, der von Union Carbide angestellt war, keine Ahnung hatte», sagt Satpathy.

Vor Ort wussten die Ärzt*innen zunächst nicht, wie man die Kranken behandeln sollte, was genau mit ihnen geschehen war.

Dem Mediziner wurde schnell klar, dass er nicht genug Personal hatte, um so viele Autopsien gleichzeitig durchzuführen. Student*innen wurden eingespannt. Er wollte den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen und die Todesursache nachweisen. Über die nächsten fünf Jahre führte er 18 000 Autopsien durch und dokumentierte unzählige Verletzungen sowie genetische Veränderungen und Mutationen bei Überlebenden und Neugeborenen. «Sie sind qualvoll gestorben», sagt Satpathy, noch heute sichtlich erregt. Die Frage nach der Gerechtigkeit, nach der Verantwortung bewegt ihn weiter. Er ist der Meinung, dass die Behörden diese Chemie-Anlage niemals hätten genehmigen dürfen.

«Die Frau, die gestorben ist, ist tot. Das ist tragisch genug. Aber was ist mit der Schwangeren, die überlebt hat? Ihr Kind wurde vergiftet geboren. Wer hat sich um die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes gekümmert? Wer hat an eine Entschädigung gedacht?», ereifert sich Divya Kishor Satpathy. «Hätte sich dieses Unglück in einer wohlhabenden Gegend ereignet, hätte man viel mehr geholfen.» Die Pestizidfabrik wurde jedoch in einem dicht besiedelten Teil von Bhopal betrieben, in dem überdurchschnittlich viele Angehörige der muslimischen Minderheit und der unteren Kasten leben. Private Stiftungen, die zur Unterstützung der Opfer gegründet wurden, tun ihr Möglichstes, um zu helfen. Doch nicht alle, die Hilfe nötig hätten, erhalten diese.

WhatsApp-Image-2024-08-20-at-16.35.jpg In den hauptsächlich betroffenen Teilen der Stadt leben vor allem Menschen der unteren Kasten. © Natalie Mayroth

Keine Angst vor dem Tod

Vishnu Bai sitzt auf den Stufen vor ihrem Haus und starrt ins Leere. «Wenn so viele Menschen tot sind, was zählt dann noch unser Leben?», fragt die ältere Frau. Diese Gedanken quälten sie schon vor 40 Jahren, als sie viele Angehörige verlor. «Die drei kleinen Kinder meiner Schwester starben direkt vor meinen Augen», sagt sie mit leiser Stimme. «Mein Sohn war erst drei Monate alt. Ich wickelte ihn in ein Tuch und schaffte es irgendwie, ihn zu retten.» Trotz des Unglücks kehrten auch sie in ihre Siedlung zurück. «Wir hatten keine Angst vor dem Tod mehr, also sind wir geblieben.»

Kürzlich hat Vishnu Bai ihren jüngsten Sohn verloren. Er hatte keinen Willen mehr weiterzuleben. Seine gesundheitlichen Probleme und die Suche nach Arbeit machten ihm so sehr zu schaffen, dass er Suizid beging.

«Wir haben so hart gekämpft, um Gerechtigkeit zu bekommen. Wir sind in Delhi, Mumbai und Bhopal in den Hungerstreik getreten», erzählt Vishnu Bai. Sie und andere Verbündete versuchen seit Jahrzehnten, Anerkennung zu bekommen für das, was ihnen hier widerfahren ist. «Wir haben aus Protest in Leichentüchern auf der Strasse geschlafen. Doch jedes Mal hat man uns im Stich gelassen.»

Keine faire Kompensation

Schon vor dem Unglück gab es Kontroversen um den Konzern Union Carbide Corporation, der die Chemiefabrik betrieb. Die Anlage sollte 1984 eigentlich verlegt werden. Dazu kam es nie. Nach dem Unglück wurde der Betrieb der Fabrik eingestellt, ohne dass je eine Umweltsanierung durchgeführt worden wäre oder man sich um die grossen Chemikalienvorräte gekümmert hätte, die nach wie vor in der Fabrik gelagert wurden.

Durchschnittlich erhielten Betroffene durch die Lokalregierung 500 US-Dollar Entschädigung pro Person.

Zu einem Vergleich zwischen der UCC und der indischen Regierung kam es im Jahr 1989. Der Konzern zahlte einmalig 470 Millionen Dollar an die indische Regierung, was 5 Prozent des damaligen Konzernumsatzes entsprach. Durchschnittlich erhielten Betroffene durch die Lokalregierung 500 US-Dollar Entschädigung pro Person. Die meisten erhielten das Geld erst, als sie schon längst verschuldet waren.

2010 verurteilte ein Gericht in Bhopal mehrere ehemalige indische Mitarbeiter des Werks wegen «fahrlässiger Tötung». Doch die Führungsriege aus den USA blieb verschont. Aktivist*innen forderten vergebens, den ehemaligen Vorsitzenden von Union Carbide, Warren Anderson, vor Gericht zu stellen. Der Konzern UCC wurde später vom Chemieriesen Dow Chemical übernommen, der ebenfalls in den USA ansässig ist (siehe Kasten). Dow Chemical lehnt weiterhin jede Haftung ab.

Langzeitfolgen bis heute

Überdurchschnittlich viele Menschen in Bhopal leiden weiterhin an chronischen Krankheiten, Kinder werden mit Behinderungen geboren. Bei Menschen, die während der Bhopal-Tragödie ausströmendem Gas ausgesetzt waren, wurden laut der Nichtregierungsorganisation Sambhavna Trust mehr als dreimal so häufig Diabetes, Herzkrankheiten, Nervenkrankheiten und Arthritis diagnostiziert. Die Anwohner*innen selbst berichten, dass Tuberkulose, Lähmungen und Lungenprobleme weit verbreitet sind.

Untersuchungen haben gezeigt, dass die Verschmutzung des Werkgeländes anhält, einschliesslich der Kontaminierung des Bodens und des Grundwassers mit Schwermetallen. Die verlassenen Überreste der Fabrik sind zwar eingezäunt, doch werden sie von Ahnungslosen als Weidefläche für Ziegen oder Kühe genutzt. 337 Tonnen Giftmüll sollen nun endlich entsorgt werden, heisst es von der Landesregierung.

Auch nach Jahrzehnten verseuchen die giftigen Abfälle der verlassenen Fabrik noch immer den Boden von Bhopal. © ZUMA Press Wire / Imago

Eine positive Veränderung brachte die Katastrophe mit sich: Erstmals rückte der Schutz von Mensch und Umwelt vor Industrieunfällen in Indien in den Fokus. Doch das ist nur ein kleiner Trost für die Bewohner*innen der Siedlung Jai Prakash Nagar. Auch vierzig Jahre nach der Katastrophe gibt es für sie keine Gerechtigkeit, es bleiben schmerzhafte Erinnerungen, anhaltende Gesundheitsprobleme und ein Gefühl des Betrugs durch Unternehmen und Regierungen, die sie im Stich gelassen haben.

«Die Forderung nach einer angemessenen Entschädigung durch den heutigen Eigentümer Dow bleibt, solange wir atmen», sagt Vishnu Bai. Am Jahrestag werden sie wieder auf die Strasse gehen und die Welt daran erinnern, was hier geschehen ist.


Dow Chemical muss Verantwortung übernehmen

Das Chemieunglück von 1984 in Bhopal war eine der schlimmsten Industriekatastrophen der Welt. Dennoch warten die Überlebenden und ihre Nachkommen weiterhin auf eine gerechte Entschädigung, eine vollständige Sanierung der Umweltschäden sowie eine angemessene medizinische Versorgung. Noch immer gibt es keine Sanktionen gegen die Verantwortlichen. 

Auch wenn es die Union Carbide Corporation (UCC) und nicht die US-amerikanische Dow Chemical Company, kurz Do w Chemical, war, die das damalige Gasleck und die anschliessende Verseuchung zu verantworten hat: Dow Chemical steht seit der Übernahme von UCC 2001 mit in der Verantwortung. Doch die Dow Chemical Company, eines der grössten internationalen Chemieunternehmen der Welt, entzieht sich weiterhin der Rechenschaftspflicht, die sie gemäss den Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte hat. Die Uno-Leitprinzipien von 2011 halten eindeutig fest, dass der Mutterkonzern seinen Einfluss ausüben muss, um negative Folgen der Tätigkeit des Tochterunternehmens zu vermeiden oder zu mildern. 

Indem Dow Chemical die Pflicht, Einfluss auf UCC auszuüben, ignoriert, trägt das Unternehmen wissentlich zu den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen bei. Nach der Katastrophe haben die zahlreichen Strafverfahren in Indien und die vielen Zivilklagen, die in Indien und den USA eingeleitet wurden, nicht zu einer schnellen, wirksamen und angemessenen Wiedergutmachung geführt, wie es die internationalen Menschenrechtsstandards verlangen. Mit dem Bericht «Bhopal, 40 Jahre Ungerechtigkeit» unterstützt Amnesty International die Überlebenden in ihrem Streben nach Gerechtigkeit. Um Druck auf Dow Chemical auszuüben, hat Amnesty International die Investor*innen aufgefordert, eine Beendigung ihrer Geschäftsbeziehung mit Dow Chemical anzudrohen, falls diese nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums signifikante Massnahmen ergreife. Unter den 50 grössten Investor*innen, die Druck ausüben könnten, befinden sich zwei Schweizer Aushängeschilder: Die UBS und die Schweizerische Nationalbank.

Danièle Gosteli