Meine Schwester Loujain wurde ausgerechnet im Mai 2018 festgenommen, in dem Jahr, als die Behörden Frauen endlich das Recht, Auto zu fahren, zugestanden. Für dieses Recht hatte Loujain jahrelang gekämpft. Meine Schwester wurde zusammen mit anderen Aktivist*innen inhaftiert und gefoltert. Und das im Auftrag derjenigen, die angekündigt hatten, die Frauen zu «ermächtigen ».
Damals war ich gerade für meine Diplomarbeit in Rechtswissenschaften in Brüssel. Während nach Loujains Verhaftung meiner Familie die Ausreise aus Saudi-Arabien verboten wurde, war ich gezwungen, im Ausland zu bleiben und von hier aus den Kampf für meine Schwester und die Frauenrechte weiterzuführen.
In den letzten Jahren haben die saudischen Behörden zwar einige der Beschränkungen, die Frauen durch das Vormundschaftssystem auferlegt wurden, aufgehoben. So dürfen Frauen nebst dem Autofahren nun auch einen eigenen Reisepass beantragen. Die strikte Geschlechtertrennung in öffentlichen Räumen wurde gelockert. Doch das Vormundschaftssystem – ein Rechtsrahmen, der erwachsene Frauen wie Minderjährige behandelt und sie der Verantwortung von Männern unterstellt – wirkt sich weiterhin negativ auf alle Aspekte des Lebens von Frauen aus und schränkt ihre Grundfreiheiten erheblich ein.
Allmächtiges Patriarchat
Die Problematik der Frauenrechte in Saudi-Arabien beruht auf zwei grundlegenden Elementen: dem patriarchalischen Staat und der Existenz des Vormundschaftssystems einerseits und der Knebelung der saudischen Zivilgesellschaft andererseits. So besteht das saudische Vormundschaftssystem aus Gesetzen und Gerichtspraktiken, die Frauen dem Willen ihres «Vormunds» unterwerfen – das ist je nach den Umständen der Vater, der Ehemann oder sogar der Sohn. Bevor Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS) an die Macht kam, hatte ein solcher Vormund fast unendliche Rechte: Er entschied unter anderem darüber, ob die Frau reisen durfte oder ob sie sich an einer Universität einschreiben konnte. Und natürlich über ihre Verheiratung.
Im Rahmen der Vision 2030 hatte MBS Reformen angekündigt, die diese Regeln lockern und Frauen vor dem Missbrauch durch den Vormund schützen sollten. Doch die Wurzeln des Vormundschaftssystems sind nach wie vor fest verankert, werden durch repressive und auslegungsbedürftige Gesetze aufrechterhalten und lassen den Vormündern die Freiheit, ihre Autorität weiterhin so auszuüben, wie sie es für richtig halten.
Die neuen Freiheiten gelten somit nur so lange, wie der Vormund sich ihnen nicht widersetzt. Denn der «Ungehorsam » einer Frau gegenüber ihrem männlichen Vormund wird immer noch als Straftat beurteilt. Eine Anzeige wegen Ungehorsams kann dazu führen, dass eine Frau im Dar al-Re'aya, einer «Betreuungsinstitution», inhaftiert wird. Sie kann wegen Taghayub – also Abwesenheit oder «Flucht» aus dem Haus – inhaftiert werden, ausserdem wegen einer «moralisch unanständigen Handlung» wie ausserehelichem Sex oder wegen Ungehorsams gegenüber einem männlichen Vormund.
Dies erlebte beispielswiese Shaimaa al-Bugmi: Sie war Opfer häuslicher Gewalt, erlebte sogar Morddrohungen durch ihren Vater. Die junge Frau wusste nicht, wohin sie flüchten konnte. Dennoch verliess sie ihr Elternhaus, wollte endlich unabhängig sein. Doch ihr Vater erklärte sie für flüchtig, und so wurde Shaimaa schliesslich festgenommen. Seitdem ist sie verschwunden.
Um die fehlenden Strukturen zum Schutz solcher verfolgter Frauen zu überbrücken, hatte meine Schwester Loujain al-Hathloul gemeinsam mit anderen Aktivist*innen versucht, ein Frauenhaus für Opfer häuslicher Gewalt einzurichten. Sie erhielten jedoch nie eine Genehmigung.
Oberflächliche Reformen
Das Recht von Frauen, einen eigenen Pass zu beantragen, hat dazu geführt, dass immer mehr Frauen das Land verlassen, um die Unterdrückung abzuschütteln und der rigiden Moral zu entfliehen. So wurden vor kurzem die bekannte Influencerin Fouz al-Otaibi und ihre Schwester Manahel al-Otaibi angeklagt, weil sie die Kleiderregeln verletzt und feministische Hashtags gegen das Vormundschaftssystem getwittert hatten. Fouz floh aus dem Land, aber Manahel wurde vom Sonderstrafgericht, das sich mit Terrorismusfällen befasst, zu elf Jahren Haft verurteilt.
Die Beispiele Loujain, Fouz und Manahel zeigen, wie gross die Diskrepanz ist zwischen den international propagierten Reformen und der Unterdrückung der zivilen Reformbewegungen und der Aktivitäten von Frauenrechtlerinnen innerhalb des Landes. Frauen, die friedlich ihre Grundrechte einfordern, werden weiterhin ins Visier genommen und bestraft.
Und diese emblematischen Fälle sind keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Nachdem die Behörden die bekanntesten Aktivist*innen des Landes verhaftet und verurteilt hatten, begannen sie, auch gegen ihre Unterstützer* innen vorzugehen. Wer Solidarität mit der Frauenbewegung zum Ausdruck brachte, setzte sich dem Zorn der Behörden aus. In den letzten Monaten verurteilten saudische Gerichte mehrere Frauen wegen friedlicher Aktivitäten in sozialen Netzwerken zu langen Haftstrafen, darunter Salma al-Shehab, Fatima al-Shawarbi, Sukaynah al-Aithan und Nourah al-Qahtani. Die Behörden signalisieren dem Volk damit, dass niemand sicher ist.
Diese Frauen sitzen heute hinter Gittern, meine Schwester darf weiterhin nicht aus Saudi- Arabien ausreisen. Wer es wagt, diese Strafen infrage zu stellen, wird bestraft. Was sind das für Reformen für die Frauenrechte, wenn Frauen mundtot gemacht werden und ihnen jedes Recht auf ein selbständiges Leben verweigert wird? Schlimmer noch: Wie kann man von Reformen und Fortschritten sprechen, wenn mit dem zurzeit geplanten neuen Strafgesetzbuch gleichzeitig die Diskriminierung der Frauen und das Vormundschaftssystem offenbar sogar im Gesetz festgeschrieben werden sollen?