«Wir werden hier nicht weggehen!» Kurz nachdem die Schrift an einer Mauer aufgetaucht ist, saust eine Kolonne von etwa 40 Jeeps durch ein Wüstendorf. Spezialkräfte springen von den Wagen, verschaffen sich Einlass in mehrere Gehöfte, zerren Familien heraus. Geheimpolizisten kidnappen das Kind, das den Slogan gepinselt haben soll, und brausen mit ihm davon.
Eine Szene, wie man sie aus einem Kriegsgebiet kennt. Sie ging aber im Frühjahr 2020 dem Bau des Siedlungsprojekts Neom in Saudi-Arabiens Grenzgebiet mit Jordanien und Ägypten voran.
Um für Neom Platz zu schaffen, sollen die al-Howaitat umgesiedelt werden.
Rings um die Dörfer al-Khuraiba, Sharma und Gayal wohnt die Bevölkerungsgruppe der al-Howaitat, seit Generationen im Königreich als Fischer*innen bekannt und für ihre Kamele bewundert. Allerdings passen sie schlecht ins Bild der vom Regime favorisierten Mittelklasse. Die traditionelle Weise, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, funktioniert nicht in einem Neubauviertel. Um für Neom Platz zu schaffen, sollen sie umgesiedelt werden.
Dagegen protestieren die al-Howaitat friedlich, formulieren Protestnoten, sammeln Unterschriften. Als Tage später vor dem Anwesen ihres Wortführers, Abdulrahim al-Howaiti, eine Polizeikolonne anrückt, kann er das noch per Handy dokumentieren. Dann eröffnet die Polizei das Feuer. Abdulrahim schiesst zurück. Er stirbt in den Trümmern seines Hauses. Nach offizieller Lesart bei einem Antiterroreinsatz.
Kalkulierte Repression
Neom ist eine Sonderzone von der Grösse Belgiens. Hier soll das neue Saudi-Arabien entstehen, das Leben nach dem Erdöl, in einer wettbewerbsfähigen und offenen Gesellschaft – wie es in der Werbung heisst. Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten an einem Ort, so dass auch Digitalnomad*innen aus der ganzen Welt angezogen werden.
«Ein Ort, an dem der Geist zur Ruhe kommt. Gleichzeitig aber auch ein Ort, an dem wir Wohlstand generieren und eine ganz neue Zukunft entwerfen können.» So stellt Klaus Kleinfeld 2017 auf einem Panel das Gebiet der al-Howaitat vor. Der Ex-Chef von Siemens und erste Neom-Aufsichtsratsvorsitzende schwärmt von der Lage zwischen Wüste und Meer. Das Dreiländereck Saudi-Arabien, Jordanien und Israel beschreibt er als praktisch unberührt.
Unberührt und verfügbar mag das Gebiet aus Sicht ausländischer Investor*innen sein. Das gilt jedoch nicht für jene rund 20 000 Menschen, die aus dem Baugebiet vertrieben werden. Sie kennen das gnadenlose Machtkalkül der regierenden al-Saud-Familie, die den grössten Teil der Arabischen Halbinsel in ihren Privatbesitz verwandeln konnte. Unter Berufung auf die «wahre Religion» oder auf die «Moderne», stets aber mithilfe neuester Technik aus dem Ausland tun sie alles, um ihre Ziele zu erreichen.
Als ungewöhnlich offenbart sich derweil die Persönlichkeit des jungen Machthabers, Kronprinz Mohammed bin Salman, der 2017 von seinem kranken Vater, König Salman, überraschend mit der Regierung betraut wurde und die Oligarchie alter Prinzen aufmischt. Neom passt in seine Vision 2030, das Regierungsprogramm, das Saudi-Arabien in die Zukunft führen soll. Mit der Neom-Wohnsiedlung The Line soll weltweit die erste Stadt entstehen, die völlig klimaneutral ist, ohne Emissionen und Autoverkehr, umgeben vom Erholungsgebiet Trojena, der Industriestadt Oxagon und einer vorgelagerten Ferieninsel namens Sindalah.
MBS, wie sich der Kronprinz gerne abkürzt, bemüht sich um ein neues Image als Freund des Westens, als Menschenfreund, und greift auch selbst zum Mikrofon: «Warum müssen Millionen Menschen sterben? Jährlich? Aufgrund von Luftverschmutzung?»
Mindestens 47 Neom-Gegner*innen sitzen nach Informationen der Menschenrechtsplattform ALQST im Gefängnis.
Dass er selbst hunderte Kritiker*innen verhaften oder beseitigen lässt, so etwa den Journalisten Jamal Khashoggi, wird gerne verschwiegen. Ebenso spricht er nicht darüber, was mit den verhafteten Neom-Gegner*innen passierte. Mindestens 47 von ihnen sitzen nach Informationen der Menschenrechtsplattform ALQST im Gefängnis. Mindestens drei Personen wurden als «Terroristen» zum Tode verurteilt, darunter auch Shadli, der Bruder des erschossenen Abdulrahim al-Howaiti. Er hatte in den sozialen Medien Mitgefühl mit seinem getöteten Verwandten bekundet. In der Haft wurde Shadli gefoltert. Laut der Menschenrechtsverteidigerin Lina al-Hathloul wurde er geschlagen und gezwungen, stundenlang auf einem Bein in der prallen Sonne zu stehen.
Sie waschen ihre Hände in Unschuld
Am 28. April 2023 schaltet sich Balakrishnan Rajagopal, Uno- Sonderberichterstatter für das Recht auf angemessenen Wohnraum, ein. Er äusserte gegenüber der saudischen Regierung und der Neom-Company seine Besorgnis und informierte die beteiligten international tätigen Firmen und die für sie zuständigen Regierungen über die Todesurteile und die Verhaftungen. Er mahnt die Staaten an, die von ihnen 2011 unterzeichneten Uno-Richtlinien zu Wirtschaft und Menschenrechten umzusetzen.
Die meisten Firmen und Regierungen antworten Wochen später. So etwa das deutsche Architekturbüro Lava: Man habe keine Kenntnis von Menschenrechtsverletzungen «in dem Bereich, in dem wir arbeiten». Dabei sind Staaten wie Deutschland, die Niederlande oder Frankreich inzwischen nicht nur an die nicht einklagbaren Uno-Richtlinien, sondern auch an das neue EU-Lieferkettengesetz gebunden, das die Regierungen anweist, Firmen von Beteiligungen an Menschenrechtsverstössen abzuhalten. Und zwar entlang der gesamten Lieferkette.
Auch Schweizer Firmen machen mit Neom ihr grosses Geschäft. So zum Beispiel das Logistikunternehmen Kühne und Nagel, das die Turbinen für Neoms Windpark transportiert. Die beteiligten Schweizer Unternehmen reihen sich in den Reigen jener Firmen ein, die ihre Investitionen ins angeblich umweltfreundliche Vorzeigeprojekt als eine Art von Werbung verstehen. Obwohl das Projekt unter Architekturkritiker* innen längst als Mogelpackung gilt. Nur für die Ausschachtung der 170 Kilometer langen Bandstadt, für den Bau der Seitenwände und beim Untertunneln für den Schienenverkehr würden so viel Zement und Beton verwendet, dass der CO2-Abdruck selbst dann nicht ausgeglichen werden könnte, wenn Neom 100 Jahre lang tatsächlich klimaneutral betrieben werden könnte.
Laut Recherchen der BBC ist es jetzt vor allem Geldmangel, der die Neom-Company ins Grübeln bringt – darüber, ob sich einige der geplanten technischen Rekorde etwas redimensionieren lassen. Etwa die ursprünglich auf 170 Kilometer angesetzte Länge der Wohnstadt, die 500 Meter hohen beiden Spiegelwände, die The Line einrahmen sollen – oder die Grösse des künstlichen Monds, der das Projekt ins rechte Licht tauchen soll.
Bisher verhallen jedoch Appelle von Städteplaner*innen ebenso ungehört wie die von Menschenrechtsverteidiger* innen wie Lina al-Hathloul: «Wenn wegen Neom Menschen die Köpfe abgeschlagen werden sollen, dann müsste doch langsam das Nachdenken darüber einsetzen», sagt sie. Zu einer Zeit, in der vielen Regierungen auf der Suche nach Alternativen zum russischen Öl und Gas MBS als Partner unersetzlich scheint, ist die Durchsetzung geltenden Rechts offenbar keine Option. Eine Politik, die sich bitter rächen könnte, meint Lina al-Hathloul. Mit MBS züchte der Westen gerade ein Monster heran, das sich «gegen den Westen wenden wird, wann immer es ihm opportun erscheint».