Interview mit Autorin Natalia Widla Interview mit Autorin Natalia Widla
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MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin März 2025 – Herrschaft über Frauenkörper Es könnte jeder sein

Von Lavinia Theiler. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2025.
In ihrem Buch «Niemals aus Liebe» arbeiten Natalia Widla und Miriam Suter die Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt auf. Ihr Zielpublikum: Männer. Lavinia Theiler traf sich mit Natalia Widla.

Es ist ein eisiger Montagmittag, als ich mich mit zwei Stativen, Mikrofonen und Kameras beladen durch den Zürcher Kreis 4 kämpfe. Gleich treffe ich Natalia Widla, sie hat mit Miriam Suter das Buch «Niemals aus Liebe – Männergewalt an Frauen» geschrieben. Ich biege in eine Strasse ein, da kommt mir in den Sinn: Vor drei Tagen ging ich genau hier an zwei jungen Männern vorbei. Der eine sagte zu mir im Vorbeigehen «Hey Baby». Ich rief ihm wütend ein fragendes «Hallo?!» hinterher. Der Kollege des Catcallers drehte sich fast entschuldigend zu mir um und gestikulierte, dass es sein Freund und nicht er gewesen sei. Ich rief ihm zu: «Ja, sag ihm, dass er nicht so mit Frauen reden kann!» – womit wir beim Thema des Buches wären, über das ich gleich mit Natalia Widla sprechen werde. Miriam Suter und sie richten sich in ihrem Buch über geschlechtsspezifische Gewalt explizit an Männer. Männer sind meistens die Täter, dennoch wird selten direkt an sie appelliert. Die Autorinnen schreiben in der Einleitung: «Wir schreiben dieses Buch für euch. Für Männer, die diese Arbeit machen wollen.» Und sie beginnen dieses Buch mit aller Deutlichkeit:

«Während wir dieses Buch geschrieben haben, wurden in der Schweiz 31 Frauen getötet. Sie mussten sterben, weil sie ihren Ex-Partner verlassen wollten. So könnte es in unserem Buch formuliert sein. Aber wir wollten so anfangen: Während unserer Arbeit an diesem Buch haben in der Schweiz 31 Männer Frauen getötet. Sie haben sie umgebracht.»

 

Natalia Widla und ich treffen uns in einem Café. Wir setzen uns an einen runden Tisch, zwischen uns ein paar Blumen. Mit Natalia den Einstieg in dieses schwere Thema zu finden, fällt leicht, wir legen sofort los.

«Man spricht oft von Gewalt an Frauen», sagt sie. «Die Frau ist das Objekt der Tat. Aber das Subjekt, das die Gewalt ausübt, bleibt unsichtbar.» Das merke man auch in der Berichterstattung. Die Schlagzeilen lauten: «Frau wurde vergewaltigt», oder: «Frau wurde ermordet». «Der Täter wird nicht erwähnt, das ist eine sprachliche Unsichtbarmachung.»

«Das Zuhause ist für Frauen nur dann der gefährlichste Ort, wenn sie mit Männern zusammenleben.»

 

Viel gehört ist die Aussage, dass der gefährlichste Ort für eine Frau ihr Zuhause sei. Das sei aber nur die Hälfte der Wahrheit: «Das Zuhause ist nur dann der gefährlichste Ort für eine Frau, wenn sie mit einem Mann zusammenlebt.» Sie fügt an: «Meine Dusche wird mich nicht beissen.» Ich muss lachen. Das Gleiche gelte für andere Orte: Ein Parkhaus, eine dunkle Gasse, ein Park in der Nacht seien keine gefährlichen Orte – «sie werden gefährlich, wenn – pauschal gesagt – Männer dort sind», führt Natalia Widla aus.

«#NotAllMen bringt dir als Mann nichts.»

 

97 Prozent der Täter von geschlechtsspezifischer Gewalt sind Männer. Gleichzeitig sind Männer jedoch global auch viel öfter Opfer von Mord und Gewalt, und auch hier sind die Täter zumeist Männer, nämlich zu 80 Prozent. Der Hashtag #NotAllMen, mit dem Männer ausdrücken wollen, dass man nicht alle Geschlechtsgenossen in einen Topf werfen dürfe, sei angesichts dieser Zahlen absurd, findet Natalia Widla. «#NotAllMen bringt dir als Mann nichts», sagt sie, «auch ein Mann kann zum Opfer werden, und auch dann ist wahrscheinlich ein Mann der Täter.»

Lavinia Theiler (links) im Gespräch mit der Autorin Natalia Widla.

Die beiden Autorinnen entschieden früh, in ihrem Buch den Fokus auf die Täter zu legen. So lassen sie darin auch einen verurteilten Mann zu Wort kommen, der nachweislich zwei Frauen das Leben zur Hölle gemacht hat. Mit solchen Einblicken geben die Autorinnen den Leser*innen die Möglichkeit, überhaupt in die Gedankenwelt eines Täters einzutauchen, der nicht die Absicht hat, Verantwortung für seine Tat zu übernehmen. Alle kennen Geschichten von Frauen, denen geschlechtsspezifische Gewalt angetan wurde. Aber kaum ein Mann gibt zu, dass einer seiner Freunde Täter war – geschweige denn er selbst. Es sind immer andere. Um die Distanzierung noch zu verstärken, werden Täter in der Berichterstattung gerne auch «Monster» oder «Bestie» genannt.

Natalia Widla verfolgte Prozesse vor Gericht und liess ihre Notizen im Buch einfliessen. Welchen Eindruck hatte sie von den wegen Vergewaltigung, versuchten Mordes oder Schändung angeklagten Männern? Sie schaut aus dem Fenster und überlegt. «Da waren Anwälte, Männer mit Doktortitel, Arbeitslose, Drogenabhängige, Familienväter – nein, man kann auf der Strasse keinem Mann ansehen, ob er gewalttätig ist oder wird. Manchmal habe ich sogar gedacht, dass der Angeklagte ein Freund von mir sein könnte.» Dass die Täter aus allen Schichten, Berufs- und Altersgruppen kommen, ist so bekannt wie ernüchternd. Das zeigte erneut der Prozess gegen Dominique Pelicot vom vergangenen Dezember, der seine Ehefrau Gisèle Pelicot über 10 Jahre hinweg betäubt und mit nachweislich 50 anderen Männern mindestens 200-mal vergewaltigt hatte – und offenbar hat niemand etwas gemerkt. Die in diesem Fall mitverurteilten Männer sind Journalisten, Feuerwehrmänner, Pflegefachmänner, Politiker, Elektriker – Männer von nebenan.

«Schlimm für Täter ist, dass jemand denken könnte, sie wären eine Person, die anderen Schaden zufügt.»

 

Vor Gericht erlebte Natalia Widla, dass Angeklagte sich mit Schutzbehauptungen verteidigten. Die Männer erklärten ihren Gewaltausbruch etwa damit, dass die Frau sie «zuerst geküsst» oder «provoziert » habe, führt Natalia Widla aus. Im Buch erzählt eine forensische Psychotherapeutin, dass solche Schutzbehauptungen selbst in der Therapie aufkämen, wo Aussagen gar keine Auswirkungen auf das Strafmass hätten. Die Therapeutin glaubt, dass es ein starker Schutzmechanismus sein könne, sich die Geschehnisse so zurechtzulegen, dass sie sich mit dem Selbstbild deckten. Das Schlimme für die Täter ist also nicht, dass sie jemandem Schaden zugefügt haben, sondern dass ihr Selbstbild einen Kratzer erhalten hat? Natalia Widla nickt. «Ja, genau. Nicht weil sie jemandem Schaden zugefügt haben, sondern weil jemand anderes denken könnte, sie wären eine Person, die anderen Schaden zufügt», sagt sie.

Wie kann nun also geschlechtsspezifische Gewalt bekämpft werden? Auf diese Frage hätten sie immer wieder die Antwort gekriegt, dass Täterarbeit Opferschutz sei, sagt Natalia Widla. Im aktuellen Diskurs stünden die Forderungen nach mehr Frauenhäusern, Beratungsstellen und Soforthilfe im Fokus. Doch diese Massnahmen griffen erst, wenn die Gewalttat bereits geschehen sei. Es müsse gleichzeitig sichergestellt werden, dass die Täter die Begleitung erhielten, mit der sie an diesen Mustern arbeiten könnten, um weitere Taten zu verhindern. «Wenn man als Femizid-Täter oder Vergewaltiger ins Gefängnis kommt, ändert man seine Haltung gegenüber Frauen ja nicht einfach so», sagt Natalia Widla. Mit der Revision des Sexualstrafrechts, die im letzten Jahr in Kraft getreten ist, kann nun auch für vollumfänglich schuldfähige Sexualstraftäter statt des reinen Strafvollzugs zusätzlich eine Massnahme verordnet werden, beispielsweise eine forensische Therapie. Der Täter werde damit gezwungen, sich mit seiner Handlung auseinanderzusetzen. «Aktuell gibt es noch keine Zahlen, aber es zeichnet sich ab, dass dies funktionieren kann. Dafür müssen Täter aber erst mal bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.»