Es ist eine Anfrage, wie das Team der Nichtregierungsorganisation Futerasu sie häufig erhält: Eine junge Frau hat Schulden in einer Host Bar angehäuft und weiss nicht, wie sie sie zurückzahlen soll. Der Host habe sie gedrängt, das Geld doch mit Sexarbeit zu verdienen. Was soll sie nur tun?
Host Bars sind in japanischen Innenstädten weit verbreitet. Männliches Personal, die Hosts, flirtet und unterhält sich mit den Gästen, es wird Alkohol getrunken, die teuren Getränke werden oft angeschrieben. So passiert es schnell, dass Kundinnen den Überblick verlieren und am Ende mit einer sehr hohen Rechnung konfrontiert sind. Anwältin Mikami Saki und Sozialarbeiterin Chiba Miu erklären das System: Früher seien Host Bars eigentlich nur etwas für Frauen mit viel Geld gewesen. Doch inzwischen seien die Clubs zugänglicher für die breite Masse. Besonders junge Frauen würden gezielt als Kundinnen umworben. Das Perfide: Wenn die Frauen Schulden anhäufen, wird ihnen oft nahegelegt, diese mit Sexarbeit abzustottern.
Leere Versprechen
Sexarbeit ist in Japan ein grosses Geschäft. Landesweit sollen laut Branchenangaben etwa 400 000 Frauen in der Sexindustrie arbeiten. Die Dunkelziffer könnte aber deutlich höher sein. Eigentlich ist Prostitution illegal, doch das Verbot umfasst nur Penetration. Andere sexuelle Handlungen sind erlaubt und werden auch offen angeboten.
Das Phänomen, dass Frauen aufgrund ihrer Besuche von Host Bars schliesslich in die Prostitution gedrängt werden, hat 2024 in den japanischen Medien viel Aufmerksamkeit erfahren. Die Polizei führte Razzien in Host Bars durch. Ende Mai wurde eine Host Bar im Tokioter Stadtviertel Kabukicho geschlossen. Ein Host der Bar «LOVE» wurde verurteilt, weil er eine Frau in die Prostitution gedrängt hatte. Die Masche ist dabei immer dieselbe: Die Männer nutzen junge, sexuell unerfahrene Frauen mit wenig Beziehungserfahrung aus, verführen sie und gaukeln ihnen vor, verliebt zu sein. So locken sie die Frauen mit leeren Versprechungen immer wieder in die Host Bars, bis diese sich hoch verschuldet haben. Dann vermitteln die Hosts die Frauen an die Männer, die sie ins Sexgewerbe drängen. Laut den japanischen Behörden unterhalten viele Host Bars Verbindungen zu kriminellen Banden.
Auch wenn längst nicht alle Host Bars in illegale Geschäfte verwickelt sind, so wird mit dem Versprechen von Zuneigung und Liebe gespielt und Geld verdient. Das Konzept, dass Menschen dafür bezahlen, dass jemand in Bars oder Cafés Zeit mit ihnen verbringt, ist in Japan sehr verbreitet. Auch für Frauen gibt es Datingservices, die für ein paar Stunden Freunde oder Partner vermitteln.
Fehlender Schutz
«Bei den Host Bars handelt es sich im Grunde genommen um einen Love Scam, also einen Liebesbetrug», sagte Shiomura Ayaka, Mitglied des japanischen Oberhauses, die sich erfolglos für bessere Schutzmassnahmen gegen ausbeuterische Host Bars eingesetzt hat, gegenüber CNN. «Viele dieser Frauen glauben tatsächlich, dass sie mit den Hosts zusammen sind.»
Im Jahr 2023 hat die Tokioter Polizei nach Angaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks NHK 140 Personen wegen angeblicher Prostitution in Kabukicho festgenommen − eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr. Von den Festgenommenen sagten 40 Prozent der Polizei, dass sie sich prostituiert hätten, um ihre Schulden in Host Bars zurückzuzahlen.
Sexarbeit ist ein unsicheres Gewerbe. Die Frauen sind freiberuflich, selbst jene, die in Etablissements arbeiten. Die Grenze zwischen legalen und illegalen Angeboten ist oft fliessend. Verdeckt werde auch Penetrationssex angeboten, sagt Mikami Saki. Für die Frauen birgt das die Gefahr, mit einer Geldstrafe belegt zu werden. Haben die Frauen keine Kunden, bekommen sie in der Regel auch kein Geld. Auch nicht, wenn sie krankheitshalber ausfallen.
Auch Sexarbeiterinnen, die ungewollt schwanger werden, stehen vor vielen Hürden: Die Pille zur Notfallverhütung ist verschreibungspflichtig. Schwangerschaftsabbrüche sind teuer. Zudem ist für einen Schwangerschaftsabbruch in Japan grundsätzlich die Zustimmung des Kindsvaters notwendig. Es gebe allerdings Kliniken, die darauf verzichteten, sagt Mikami Saki.
Auch Gewalt sei ein häufiges Problem, berichtet das Team von Futerasu, das Sexarbeiterinnen in ganz Japan berät. Zwar hat die Regierung vor einiger Zeit das Sexualstrafrecht verschärft, doch tatsächlich werden nur wenige Vergewaltigungen angezeigt. Für die Sexarbeiterinnen kommt erschwerend das gesellschaftliche Stigma hinzu. Es gebe Fälle, in denen die Polizei den Frauen die Schuld für den Übergriff als eine Art Berufsrisiko zuschreibe und ihre Anzeige nicht ernst nehme, berichtet Mikami Saki.
Dennoch bleibt die Branche für viele Frauen attraktiv. In Tokio liegt der durchschnittliche Mindestlohn bei umgerechnet knapp 7 Schweizer Franken pro Stunde. In der Sexarbeit könne man zwischen 17 und 116 Schweizer Franken pro Stunde verdienen, sagt Anwältin Mikami Saki. «Es ist daher oft die effizienteste Möglichkeit für Frauen, Geld zu verdienen.»
Das von Host Bars verwendete Abrechnungssystem ist nach geltendem Recht nicht illegal. Allerdings hat ein landesweiter Aufschrei dazu geführt, dass Politiker*innen an einer Gesetzesverschärfung arbeiten, die den Bars ihre intransparenten Abrechnungspraktiken untersagen soll.
Ein von Shiomura Ayaka entworfener Gesetzentwurf, der staatliche Ermittlungen, öffentliche Aufklärungskampagnen, Beratungsdienste und Beschäftigungshilfe für die Opfer vorsah, wurde jedoch von der Regierungspartei abgelehnt. Kritiker* in nen argumentierten, dass die Kundinnen selbst für ihren Besuch von Host Bars und ihre übermässig hohen Ausgaben verantwortlich seien.
«Diese Ansichten zeigen, dass wir in der japanischen Gesellschaft ein Problem haben. Die Körper von jungen Frauen haben keinen Wert und werden nur als Produkt betrachtet», sagte die Parlamentarierin Shiomura Ayaka gegenüber CNN.
Tabuthema Sex
Das Sexgewerbe mag in Japan sehr offen für sich werben, im Alltag der meisten Menschen ist Sex aber eher ein Tabuthema. Dies ist mit ein Grund dafür, dass Gewalt an Frauen und sexualisierte Gewalt in Japan oft normalisiert werden. Die NGO Futerasu fordert daher eine Reformation des Sexualkundeunterrichts, damit nicht nur sexualisierte Gewalt, sondern auch das Recht auf körperliche Selbstbestimmung offen thematisiert werden können.
Japan ist nach wie vor eine patriarchalische Gesellschaft. Männer dominieren die Politik und die Führungsetagen von Unternehmen. Im Index zur Geschlechtergleichstellung des Weltwirtschaftsforums landet Japan auf Platz 118 von insgesamt 146 Ländern. Wie Frauen dargestellt werden, welche Rechte sie über ihren Körper haben – diese Entscheidungen liegen nach wie vor meist in Männerhand.