«Traditionen sind nur so lange schön, wie sie keinen Schaden verursachen»: Multiplikator*innen des Schweizer Netzwerks gegen Mädchenbeschneidung. © Melissa Riffaut
«Traditionen sind nur so lange schön, wie sie keinen Schaden verursachen»: Multiplikator*innen des Schweizer Netzwerks gegen Mädchenbeschneidung. © Melissa Riffaut

MAGAZIN AMNESTY AMNESTY-Magazin März 2025 – Herrschaft über Frauenkörper Trotz Verbot auch hier existent

Von Melissa Riffaut. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom März 2025.
In der Schweiz gibt es mehr als 20 000 Frauen, die eine Genitalverstümmelung erlitten haben – oder von einer solchen bedroht sind. Melissa Riffaut traf zwei Aktivistinnen, die Betroffene unterstützen.

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Die aus Burkina Faso stammende Mariam erzählt spontan und sehr offen ihre Geschichte. Denn diese soll als Beispiel dienen und anderen Betroffenen Hoffnung geben. Als Mariam gerade mal drei Monate alt war, wurde sie beschnitten – mit einem kleinen Messer und ohne Betäubung. Erst viel später verstand Mariam, dass ihre andauernden Schmerzen damit zusammenhängen. Sie fand heraus, dass sie eine Typ-IIBeschneidung erlitten hatte, bei der die äussere Klitoris und die kleinen Schamlippen teilweise oder vollständig entfernt wurden. Bei diesem Typus werden mitunter auch noch die grossen Schamlippen entfernt. Mariam, die seit mehreren Jahren in der Schweiz lebt, unterzog sich mit 37 Jahren im Universitätskrankenhaus Genf (HUG) einer Rekonstruktion. «Die Rekonstruktion hat mich befreit. Ich empfehle sie allen Frauen, die dazu in der Lage sind», sagt sie.

In der Schweiz sind nach Angaben des Schweizer Netzwerks gegen Mädchenbeschneidung rund 22'600 Frauen und Mädchen von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen.

In der Schweiz sind nach Angaben des Schweizer Netzwerks gegen Mädchenbeschneidung rund 22'600 Frauen und Mädchen von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen. Jährlich wenden sich etwa 100 Frauen an Dr. Jasmine Abdulcadir, die die Sprechstunde für weibliche Genitalverstümmelung/- beschneidung FGM/C am HUG leitet. Eine Beschneidung hat nicht nur immense körperliche Schmerzen zur Folge, sie führt auch zu psychischen Problemen, über die viele nicht sprechen wollen. Das Thema ist sehr tabuisiert. Wer diese Tradition ablehnt, wird oft aus dem sozialen Netz ausgeschlossen.

Das Netzwerk gegen weibliche Genitalverstümmelung hat zum Ziel, betroffene und gefährdete Mädchen und Frauen in der ganzen Schweiz psychosozial zu beraten und medizinisch zu versorgen. Es verfügt über eine von Caritas Schweiz betriebene Kontaktstelle, die Betroffene, Angehörige und Fachleute berät – insbesondere bei komplexen strafrechtlichen und migrationsbezogenen Fragen.

Anhaltender Schmerz

Omayma ist eine der Multiplikatorinnen in diesem Netzwerk und setzt sich in der Präventionsarbeit ein. Sie selbst war im Alter von fünf Jahren im Sudan Opfer einer Infibulation. Die Infibulation – Typus III der Beschneidungsformen – ist die schlimmste Form von weiblicher Genitalverstümmelung. Die Klitoris und sowohl die kleinen wie die grossen Schamlippen werden entfernt. Die Wunde wird bis auf ein kleines Loch zugenäht. Omayma beschreibt, dass sie einen traumatischen Schock erlebte, von dem sie sich nie erholt hat. Sie setzt ihren in der Heimat begonnenen Kampf auch in der Schweiz fort, nachdem sie hierher geflüchtet ist. Sie wollte einen medizinischen Wiederaufbau ihres Geschlechts angehen, konnte dies aber nicht durchziehen: Die Flashbacks liessen sie nicht los. Heute ist es ihr unermüdlicher Kampf für an dere Frauen, der ihr hilft, ihr eigenes Leid zu lindern.

Seit 2012 verbietet Artikel 124 des Strafgesetzbuchs die weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz. Das geltende Gesetz ermöglicht es, alle zu bestrafen, die eine weibliche Genitalverstümmelung durchführten – egal, ob die Tat in der Schweiz oder im Ausland ausgeführt wurde.

Auf globaler Ebene ist der Weg noch weit. In diesem Kampf, in dem zunächst das Tabu, darüber zu sprechen, fallen muss, haben auch Männer eine wichtige Rolle: Indem sie sich diesem Brauch widersetzen, können sie zu seiner Abschaffung beitragen. In den Zielländern der Migrant*innen verurteilen immer mehr Männer diese Praxis. «Auch wenn die weibliche Genitalverstümmelung in den meisten betroffenen Gemeinschaften eine wichtige identitätsstiftende Tradition ist: Traditionen sind nur so lange schön, wie sie keinen Schaden verursachen. Ansonsten müssen sie aufgegeben werden», sagt Simone Giger vom Schweizer Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung.