Innerhalb von zwei Tagen sind fast 6000 Menschen auf der italienischen Insel Lampedusa gelandet. Die Folge: Die Aufnahmestrukturen sind überlastet. © Amnesty International
Innerhalb von zwei Tagen sind fast 6000 Menschen auf der italienischen Insel Lampedusa gelandet. Die Folge: Die Aufnahmestrukturen sind überlastet. © Amnesty International

Humanitäre Krise in Lampedusa Spiegel einer gescheiterten Politik

19. September 2023
Innerhalb von zwei Tagen erreichten Hunderte von behelfsmässigen Booten die italienische Insel Lampedusa. Mehr als 6000 Menschen befanden sich an Bord. Angesichts dieser neuen Tragödie ist die Reaktion der italienischen Behörden äusserst unzureichend. Ebenso wenig wie die europäische Solidarität.

Ein erst fünf Monate alter Säugling ist vor Lampedusa in der Hektik der Operation der italienischen Küstenwache ums Leben gekommen. Seine Mutter, eine minderjährige Frau aus Guinea, wurde zusammen mit den 45 Personen, mit denen sie auf einem Boot aus Sfax in Tunesien unterwegs war, gerettet.

Das Drama ging jedoch schnell vergessen, da sich in den folgenden Stunden die Ereignisse in Lampedusa überschlugen:

Innerhalb von zwei Tagen landeten mehr als 6000 Menschen in über 100 Booten auf der Insel, entweder aus eigener Kraft oder mit Unterstützung der Küstenwache.

Die meisten dieser Menschen stammen aus Ländern südlich der Sahara. Viele von ihnen sind minderjährig.

Sie sind aus Libyen, das vor kurzem vom Zyklon Daniel heimgesucht wurde, und vor allem aus Tunesien aufgebrochen.

Unzureichende Mittel für die Aufnahme von Geflüchteten

Die vielen Menschen, die in den letzten Stunden in Lampedusa an Land gegangen sind, sehen sich mit der unzureichenden Unterstützung des italienischen Staates konfrontiert.

Das Personal – Ärzt*innen, Sanitäter*innen, Vermittler*innen - ist im Vergleich zum Bedarf unzureichend und so müssen Menschen, die nach einer Reise auf behelfsmässigen Booten unter schwierigsten Bedingungen ankommen, manchmal mehrere Stunden in der Sonne warten, um eine Erstversorgung und einen Transfer in Rotkreuz-Bussen zum Hotspot Contrada Imbriacola zu erhalten.

Das einzige Aufnahmezentrum auf Lampedusa hat seine Sättigungsgrenze weit überschritten: Mehr als 6000 Menschen halten sich dort bei einer Kapazität von 400 Plätzen auf.

Die Bewältigung der Situation an der Anlegestelle von Favarolo wird von den Ordnungskräften übernommen: Dabei hat die Guardia di Finanza Angriffe auf Migrant*innen durchgeführt. Die Bilder, die dort gefilmt wurden, sind unwürdig.

Inzwischen hat das einzige Aufnahmezentrum auf Lampedusa seine Sättigungsgrenze weit überschritten: Mehr als 6000 Menschen halten sich dort bei einer Kapazität von 400 Plätzen auf; Männer, Frauen und minderjährigen Personen müssen auf engstem Raum leben. Um zu versuchen, die Situation zu entschärfen, werden Transfers, auch mit Militärschiffen, in andere italienische Regionen organisiert.

Abkommen mit Libyen und Tunesien sind grausam, teuer und ineffektiv

Sowohl Libyen als auch Tunesien haben mit Europa Abkommen geschlossen, die sich auf die Migrationsströme konzentrieren. 2017 unterzeichneten Italien und Libyen die «Vereinbarung über die Zusammenarbeit in den Bereichen Entwicklung, Bekämpfung der illegalen Einwanderung, des Menschenhandels, des Schmuggels und der Stärkung der Grenzsicherheit».

So stellen Italien und die Europäische Union seit sechs Jahren Finanzmittel, Ressourcen und Ausbildungen für die libysche Küstenwache bereit, die im Gegenzug Migrant*innen abfängt und an Orte zurückschickt, an denen sie systematisch Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Gewalt und Vergewaltigung erleiden. Im Juli 2023 unterzeichnete die Europäische Union ein ähnliches Abkommen mit dem von Kais Saied regierten Tunesien, das seit Anfang des Jahres die Repression gegen jegliche politische Opposition verschärft und zur Diskriminierung von Migrant*innen aufruft. Seit Monaten sind Menschen aus Subsahara in Tunesien Gewalt, Übergriffen, Zwangsräumungen, willkürlichen Verhaftungen und Abschiebungen in die Wüste ausgesetzt.


Auf der Mittelmeerroute sterben immer mehr Menschen

In der aktuellen Situation sterben weiterhin Menschen auf See. Die Besatzung des Schiffes Nadir der deutschen NGO Resqship berichtet von den Aussagen einer Gruppe von Schiffbrüchigen, die während ihrer Überfahrt von Sfax nach Lampedusa gerettet wurden.

Mindestens 40 Menschen sind vor ihren Augen zusammen mit dem Eisenboot, auf dem sie unterwegs waren, untergegangen. Trotz eines starken Anstiegs der Zahl der Abfahrten fehlt es noch immer an einer koordinierten europäischen Such- und Rettungsaktion, während die Intervention der NGOs weiterhin behindert wird.

Der zynische Angriff der Regierung auf NGOs

Die italienische Regierung greift hartnäckig NGOs an, die Such- und Rettungsaktionen durchführen. Zuletzt wurde das Schiff Mare Jonio der NGOs Mediterranea Saving Humans, das einzige Schiff der zivilen Rettungsflotte unter italienischer Flagge, stillgelegt und einer mehr als einwöchigen Inspektion unterzogen, in deren Folge die NGOs aufgefordert wurde, "vor dem Auslaufen des Schiffes die an Bord befindlichen Geräte und Vorräte zur Durchführung des Rettungsdienstes vom Schiff zu entfernen".

Dieser Befehl sei "skandalös und inakzeptabel, ebenso wie die Androhung strafrechtlicher Konsequenzen für unseren Schiffseigner", kommentierte Mediterranea, die die Massnahme anfechtet. Laut der NGO suchen die Behörden mit dieser Entscheidung nach einem Vorwand: Das Schiff ist als für Such- und Rettungsaktivitäten ausgerüstet anerkannt und als solches im italienischen Schiffsregister eingetragen.

Und dennoch: "[Das Schiff] soll die Kriterien zweier im Dezember 2021 und Februar 2022 erlassener Rundschreiben nicht erfüllen, die besondere technische Merkmale des Rumpfes erfordern". "Die italienische Regierung möchte dies zur Norm für alle europäischen Flaggen machen, um die gesamte zivile Flotte zu behindern", so Mediterranea.

Europas moralisches Abdriften

Auf europäischer Ebene gibt es Widerstand gegen ein gemeinsames Engagement, das auf dem Grundsatz der gemeinsamen Verantwortung beruht. Deutschland hat das Auswahlverfahren für aus Italien kommende Migrant*innen blockiert. Es handelt sich um den so genannten "Solidaritätsmechanismus", der völlig freiwillig ist und nicht ausreicht, damit die europäischen Länder entscheiden, ob sie die Überstellung von Migrant*innen in ihr Hoheitsgebiet zulassen. Die Position Deutschlands ist eine Reaktion auf die Entscheidung Italiens vom vergangenen Dezember, den mit der Dublin-Verordnung verbundenen Mechanismus auszusetzen und keine Migrant*innen mehr aufzunehmen, die nach Deutschland übergesiedelt sind, obwohl sie in Italien in das EU-Gebiet eingereist sind, und deren Asylantrag gemäss der Dublin-Verordnung von den italienischen Behörden geprüft werden muss. Frankreich kündigte ausserdem an, die Kontrollen in der Region zwischen Menton und Ventimiglia zu verschärfen: ein Gebiet, in dem die Grenze für Migrant*innen seit Jahren geschlossen und militarisiert ist. Angesichts der Positionen von Berlin und Paris wird die Diskussion über den Europäischen Migrationspakt, die für den 28. September geplant ist, schwierig werden. Ein Entwurf des Paktes wurde im Juni vorgelegt.

Die Mitgliedstaaten scheinen sich darin nur in einem Punkt geeinigt zu haben: der Senkung der Schutzstandards für Menschen, die auf europäischem Boden ankommen. Der Text sieht die Einführung von Massnahmen vor, die zu Leid führen werden, darunter insbesondere die bis zu mehrmonatige Inhaftierung von Menschen in geschlossenen Zentren in Grenznähe und die Möglichkeit, Menschen auf der Suche nach Zuflucht in als sicher geltende Länder zurückzuschicken.

Angesichts der Notwendigkeit, die Migrationspolitik zum Schutz der Menschen zu überdenken und sich an den Grundsatz der gemeinsamen Verantwortung zu halten, birgt der Europäische Pakt stattdessen die Gefahr, grössere Trennlinien zwischen den Ländern an den Aussengrenzen der Union und den Ländern innerhalb der Union zu ziehen, und er entfernt sich immer weiter vom Konzept der Solidarität und des Schutzes von Rechten.