Katastrophale Angriffe auf die Menschenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter in den vergangenen zwölf Monaten haben den Schutz von Frauen und Mädchen weltweit verschlechtert, sagt Amnesty International zum 8. März. Am Internationalen Frauentag ruft die Organisation zu mutigem Handeln auf, um die Erosion der Rechte von Frauen und Mädchen rückgängig zu machen.
«Im Jahr 2021 und den ersten Monaten dieses Jahres kam es zu Ereignissen, durch die die Rechte und die Würde von Millionen von Frauen und Mädchen verletzt wurden», sagt Agnès Callamard, die internationale Generalsekretärin von Amnesty International.
Die von der Covid-19-Pandemie geprägten vergangenen zwei Jahre haben Frauen und Mädchen ungleich stärker betroffen: Die häusliche Gewalt hat zugenommen, die Arbeitssicherheit für Frauen hat sich verschlechtert, der Zugang zu Gesundheitsdiensten ist manchenorts erodiert. Auch die Zahl der Mädchen, die eine Schule besuchen, ist vielerorts drastisch zurückgegangen. Diejenigen, die ohnehin schon am stärksten benachteiligt sind, sind am stärksten betroffen. In vielen Ländern wurden diejenigen am härtesten getroffen, die ohnehin schon am stärksten marginalisiert sind.
«Die Angriffe auf Frauenrechte sind zwar gut dokumentiert, werden aber immer noch zu wenig beachtet oder sogar völlig ignoriert.» Agnès Callamard, die internationale Generalsekretärin von Amnesty International
«Die massiven Einschränkungen der Frauenrechte in Afghanistan, die weit verbreitete sexualisierte Gewalt im Äthiopienkonflikt, die Angriffe auf den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen in den USA und der Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention zu geschlechtsspezifischer Gewalt höhlen die Rechte von Frauen aus. Die Angriffe auf Frauenrechte sind zwar gut dokumentiert, werden aber immer noch zu wenig beachtet oder sogar völlig ignoriert. Wir müssen diesem weltweiten Angriff auf die Würde von Frauen und Mädchen entschieden entgegentreten», sagt Agnès Callamard.
Krise in der Ukraine
In diesem Jahr fällt der Internationale Frauentag in eine Zeit, in der der russische Einmarsch in die Ukraine die Welt in eine neue Krise stürzen. Bilder von Frauen, die unter Luftangriffen gebären oder mit ihren Kindern auf dem Arm vor den Bomben fliehen, Bilder von trauernden Müttern und neu verwaisten Kindern machen deutlich, was Konflikte und humanitäre Krisen für Frauen und Kinder bedeuten.
Die zunehmende Militarisierung des Alltags durch die Verbreitung von Waffen, die Eskalation von Gewalt und die Umlenkung öffentlicher Mittel in Militärausgaben stellt einen hohen und unhaltbaren Preis für das tägliche Leben von Frauen und Mädchen dar. In diesen Tagen sind Frauen und Mädchen in der Ukraine und in der gesamten Region ein weiteres Mal in grosser Gefahr. Amnesty International hat bereits dokumentiert, dass die Militarisierung der letzten Jahre in den konfliktbetroffenen östlichen Regionen der Ukraine zu einem Anstieg der geschlechtsspezifischen Gewalt und einem eingeschränkten Zugang zu grundlegenden öffentlichen Leistungen geführt hat. Dieses Muster wird sich nun auf das ganze Land ausweiten.
Massive Einschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan
Auch in Afghanistan haben die Taliban seit ihrer Machtübernahme in Kabul im August 2021 die Rechte von Frauen und Mädchen stark eingeschränkt. Frauen dürfen sich nur in Begleitung eines männlichen Vormunds an ihren Arbeitsplatz begeben oder sich in der Öffentlichkeit bewegen. Mädchen, die älter als zwölf Jahre sind, haben keinen Zugang zur Bildung.
«Die Gesetze, Politik und Methoden der Taliban haben dazu beigetragen, die Errungenschaften im Bereich der Menschenrechte, für die das afghanische Volk jahrzehntelang gekämpft hat, zunichtezumachen. Trotz der mutigen Proteste von Frauen im ganzen Land sind die Taliban entschlossen, eine Gesellschaft zu errichten, in der Frauen zu Bürger*innen zweiter Klasse degradiert werden: in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, ihrer Arbeitsmöglichkeiten beraubt und ohne Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Das ist unzumutbar», sagt Agnès Callamard. «Die Regierungen weltweit müssen die Rechte von Frauen und Mädchen in den Mittelpunkt ihrer Aussenpolitik für Afghanistan stellen. Sie müssen darauf bestehen, dass Frauen und Mädchen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Beschäftigung und grundlegenden Dienstleistungen haben – ohne Diskriminierung.»
Geschlechtsspezifische Gewalt in Äthiopien
Geschlechtsspezifische Gewalt ist ständiges Merkmal der bewaffneten Konflikte in Äthiopien, die in den letzten zwölf Monaten fortgesetzt und ausgeweitet wurden. Amnesty International hat über die weit verbreitete sexuelle Gewalt in Äthiopien berichtet, die in der Region Tigray von äthiopischen und eritreischen Streitkräften und in der Region Amhara von tigrayischen Streitkräften verübt wurde.
Diese Übergriffe stellen Kriegsverbrechen dar und können als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden. Viele der von Amnesty International dokumentierten Übergriffe – wie etwa Gruppenvergewaltigungen – wurden von mehreren Tätern vor den Augen von Familienmitgliedern begangen. In einigen Fällen wurden die Angegriffenen sexuell verstümmelt, bedroht und wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit beleidigt.
Rechtlicher Schutz wird abgebaut
In den vergangenen zwölf Monaten wurde auch der internationale Rechtsrahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt erheblich geschwächt.
Am 1. Juli 2021 trat die Türkei aus der bedeutenden Istanbul-Konvention aus. Die Istanbul-Konvention ist ein zentrales Instrument zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt und zur Gewährleistung der Rechte von Betroffenen in Europa. Diese Entscheidung der Türkei stellt einen massiven Rückschritt für die Menschenrechte von Frauen und Mädchen im Land dar und hat in mehreren anderen Staaten Angriffe gegen Frauenrechte gefördert.
In den Vereinigten Staaten von Amerika kamen die Abtreibungsrechte unter Druck, wobei die Regierungen der Bundesstaaten im Jahr 2021 mehr Abtreibungsbeschränkungen einführten als in jedem anderen Jahr zuvor. In Texas wurde ein nahezu vollständiges Verbot erlassen, das Schwangerschaftsabbrüche bereits ab der sechsten Schwangerschaftswoche kriminalisiert – bevor die meisten Frauen überhaupt wissen, dass sie schwanger sind.
Menschenrechtsverteidiger*innen bewirken Widerstand und positiven Wandel
Trotz dieser Rückschläge haben sich die unermüdlichen Bemühungen von Menschenrechtsverteidiger*innen ausgezahlt. Der Einsatz für die Menschenrechte, Kampagnen und die Mobilisierung führten zu wichtigen Siegen für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Kolumbien, Mexiko und San Marino. Und während die Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgestiegen ist, haben zwei andere Staaten, Moldawien und Liechtenstein, sie ratifiziert.
Frauenrechtsaktivist*innen in Slowenien haben erfolgreich Reformen durchgesetzt, um das slowenische Gesetz gegen Vergewaltigung mit internationalen Standards in Einklang zu bringen. Ähnliche positive Entwicklungen gab es in Dänemark, Malta, Kroatien, Griechenland, Island und Schweden, während in den Niederlanden, Spanien und der Schweiz Reformen im Gange sind.
Menschenrechtsverteidiger*innen an vorderster Front
In Ländern wie der Ukraine, Polen, Belarus, Russland, den USA und Afghanistan stehen Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen an vorderster Front des Widerstands und des Protests für die Menschenrechte. In vielen Fällen haben sie sich trotz der Bedrohung ihres Lebens und ihrer Familien oder unter Androhung von Gefängnis und körperlicher Gewalt für die Menschenrechte eingesetzt. Sie verdienen weltweite Unterstützung.
«Die Regierungen wissen sehr wohl, was notwendig ist, um die Menschenrechte von Frauen und Mädchen zu wahren. Rückschrittliche Gesetze müssen aufgehoben werden. Frauen und Mädchen müssen gleichberechtigten Zugang zu den grundlegenden öffentlichen Leistungen sowie zu Bildung und Erwerbsarbeit erhalten», sagt Agnès Callamard. «Geschlechtsspezifische Gewalt muss verurteilt und der Schutz vor Gewalt muss gestärkt werden. Die Angriffe auf Menschenrechtsverteidigerinnen müssen aufhören. Keine Gesellschaft kann es sich leisten oder sollte es jemals dulden, dass die Würde von mehr als der Hälfte ihrer Bevölkerung derart ausgehöhlt wird. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass es nicht gelingt, gerecht und fair für Frauen und Mädchen zu regieren.»
Ausstellung in der Schweiz
Amnesty Schweiz lanciert anlässlich des Internationalen Frauentags eine Ausstellung zum Thema sexualisierter Gewalt. Die Ausstellung wird erstmals am Frauentag, dem 8. März, im Kosmos in Zürich gezeigt. In einer Podiumsdiskussion welche im Rahmen der Vernissage stattfindet diskutieren Jorinde Wiese, eine von sexualisierter Gewalt Betroffene und Aktivist*in, Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung, Christoph Gosteli, Berater des Mannebüro Zürich und Dominice Häni, Forensic Nurse, darüber, was nach einer Vergewaltigung passiert und wie die Prozesse weniger traumatisch gestaltet werden können, damit mehr Betroffene das Schweigen brechen – und die Straflosigkeit der Täter ein Ende hat.