Am 28. September 2020 hat Amnesty International eine überarbeitete Position zum Thema Schwangerschaftsabbruch veröffentlicht. Amnesty International fordert den universellen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen – und den damit verbundenen Dienstleistungen und Informationen – sowie deren vollständige Entkriminalisierung. Einige Fragen und Antworten dazu:
Einfach auf die Frage klicken, um direkt zur Antwort zu gelangen.
2. Was sind die wichtigsten Änderungen in der Position?
3. Welche Massnahmen fordert Amnesty International von den Regierungen?
4. Ist ein Schwangerschaftsabbruch ein Menschenrecht?
6. Warum verwendet Amnesty International den Begriff «schwangere Personen»?
7. Verstösst ein Schwangerschaftsabbruch gegen das Recht auf Leben?
9. Befürwortet Amnesty International die gezielte Abtreibung von Föten aufgrund ihres Geschlechts?
1. Aus welchem Grund hat Amnesty International ihre Position zu Schwangerschaftsabbrüchen überarbeitet?
Wir haben unsere Positionierung aktualisiert, um sie mit der Entwicklung internationaler Menschenrechtsnormen in Einklang zu bringen, sie so umfassend wie möglich zu gestalten und sicherzustellen, dass sie alle Barrieren aufzeigt, die den Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch behindern, sowie das gesamte Spektrum an Menschenrechtsverletzungen aufgrund der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen abdeckt.
Unsere Position zum Thema Schwangerschaftsabbrüche beruht auf jahrelangen Recherchen und Gesprächen mit Frauen und Mädchen, deren Leben durch restriktive Gesetze aus den Angeln gehoben wurde, sowie mit medizinischem Personal, AktivistInnen und RechtsexpertInnen.
2. Was sind die wichtigsten Änderungen in der Position?
In der überarbeiteten Position betrachtet Amnesty International Schwangerschaftsabbrüche, die in einer Weise vorgenommen werden, die die Menschenrechte, die Autonomie, die Würde und die Bedürfnisse schwangerer Personen respektiert, als das Recht jeder Person, die schwanger werden kann.
Anstatt den Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch unter rein gesundheitlichen Aspekten zu betrachten oder als Frage, die nur bestimmte Menschen betrifft, erkennt unsere neue Position an, dass der sichere Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch für die Verwirklichung des gesamten Spektrums der Menschenrechte und die Erreichung von sozialer, reproduktiver und wirtschaftlicher Gerechtigkeit sowie Geschlechtergerechtigkeit von wesentlicher Bedeutung ist.
Amnesty International setzt sich auch weiterhin für eine vollständige Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Während wir in unserer vorherigen Position den Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruchunter bestimmten Umständen befürwortet haben, fordern wir jetzt den universellen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen für alle Personen, die diese benötigen.
3. Welche Massnahmen fordert Amnesty International von den Regierungen?
Wir fordern die Regierungen auf, Schwangerschaftsabbrüche vollständig zu entkriminalisieren und einen universellen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen für alle Personen zu gewährleisten, die diese benötigen. Dazu gehört, Schwangerschaftsabbrüche nicht länger strafrechtlich zu ahnden und Personen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, diesen durchführen oder dabei behilflich sind, nicht länger zu bestrafen.
Ein Schwangerschaftsabbruch sollte so behandelt werden wie alle anderen Gesundheitsleistungen auch. Schwangerschaftsabbrüche und die entsprechende Nachsorge müssen also zugänglich, bezahlbar und von guter Qualität sein und ohne Diskriminierung bereitgestellt werden. Ausserdem sollten Schwangerschaftsabbrüche nur bei informierter Zustimmung durchgeführt werden und niemals unter Drohungen, Gewaltanwendung oder Zwang erfolgen.
Regierungen müssen Gesetze aufheben, die Menschen ihre Selbstbestimmung über den eigenen Körper verwehren, zum Beispiel durch die Notwendigkeit der Zustimmung von Eltern oder Ehegatten. Sie sollten gewährleisten, dass alle Personen Zugang zu genauen, evidenzbasierten Informationen über sexuelle und reproduktive Gesundheit und den damit verbundenen Rechten haben.
Staaten sollten diskriminierende Gesetze aufheben, die unter anderem Menschen mit Behinderungen, Jugendliche und transgeschlechtliche Personen am Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch hindern.
Regierungen müssen die sozialen und wirtschaftlichen Themen angehen, die darauf Einfluss haben können, ob Menschen eine Schwangerschaft fortsetzen. Menschen brauchen ein sicheres und menschenwürdiges Umfeld, um Eltern zu werden. Ein solches Umfeld ist abhängig von Faktoren wie dem Zugang zu qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Bildung und Beschäftigung. Wenn diese Rechte nicht gewährleistet sind, wird den Menschen das Recht verweigert, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Diese Einsicht bildet die Grundlage der Forderungen von Gruppen, die sich gegen intersektionale Diskriminierung und Unterdrückung wenden, darunter die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit in den Vereinigten Staaten, die von Schwarzen Frauen und Women of Color angeführt wird.
4. Ist ein Schwangerschaftsabbruch ein Menschenrecht?
Nach internationalen Menschenrechtsstandards hat jeder Mensch, beginnend mit der Geburt, ein Recht auf Leben sowie die Rechte auf Privatsphäre, Gesundheit, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung und gleichen Schutz durch das Gesetz sowie das Recht, frei von Gewalt, Diskriminierung und Folter oder anderer Misshandlung zu sein.
Amnesty International betrachtet den Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch als elementare Voraussetzung zur Gewährleistung des Schutzes all dieser Rechte.
Menschenrechte sind universell, unteilbar und miteinander verknüpft. Dies bedeutet, dass sexuelle und reproduktive Rechte, darunter auch das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, für die vollständige Verwirklichung aller anderen Menschenrechte von grundlegender Bedeutung sind.
5. Welche rechtlichen Änderungen auf internationaler Ebene gab es seit der letzten Stellungnahme von Amnesty International zum Thema Schwangerschaftsabbrüche?
Die internationalen Rechtsnormen und -standards zum Thema Schwangerschaftsabbruch haben sich in den letzten zehn Jahre stark verändert.
Menschenrechtsgremien erkennen zunehmend den Schaden an, der durch Gesetze verursacht wird, die den Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch auf bestimmte «Mindestgründe» beschränken, also aussergewöhnliche Umstände wie die Gefährdung von Leben oder Gesundheit, sexuelle Übergriffe oder fötale Schädigungen. Sie fordern zunehmend die vollständige Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und den Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch für alle Menschen, die ihn benötigen.
Auch UN-Gremien verweisen darauf, dass die Staaten verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass ein Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis möglich ist.
Dazu gehört die Abschaffung oder Reformierung von Gesetzen, die dafür sorgen, dass die meisten Menschen, die einen Schwangerschaftsabbruch benötigen, sich auf eine unsichere Abtreibung einlassen müssen.
6. Warum verwendet Amnesty International den Begriff «schwangere Personen»?
Cis-Frauen und -Mädchen sind nicht die einzigen Menschen, die Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen benötigen. Auch intergeschlechtliche Menschen, transgeschlechtliche Männer und Jungen sowie Menschen mit einer anderen oder gar keiner geschlechtlichen Identität können schwanger werden. Sie sind beim Zugang zu Gesundheitsleistungen häufig mit mehrfacher beziehungsweise intersektionaler Diskriminierung konfrontiert.
7. Verstösst ein Schwangerschaftsabbruchgegen das Recht auf Leben?
Nein. Tatsächlich hat bisher kein internationales oder regionales Menschenrechtsgremium festgestellt, dass Schwangerschaftsabbrüche mit den Menschenrechten, zu denen auch das Recht auf Leben gehört, unvereinbar ist.
Stattdessen hat der UN-Menschenrechtsausschuss wiederholt auf die Gefährdung des Lebens von Frauen und Mädchen durch Einschränkungen hingewiesen, die sie zwingen, unsichere Schwangerschaftsabbrüche in Anspruch zu nehmen. Für den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen zu sorgen, schützt das Recht auf Leben.
Amnesty International nimmt keine Stellung dazu, wann menschliches Leben beginnt – dies ist eine moralische und ethische Frage, die alle Personen für sich selbst entscheiden müssen.
8. Sollte nach Auffassung von Amnesty International ein Abbruch zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft möglich sein?
Amnesty International fordert Regierungen auf, dafür zu sorgen, dass ein sicherer Schwangerschaftsabbruch so früh wie möglich und so spät wie nötig möglich ist. Staaten können den Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch regulieren und auch Fristen setzen, bis zu welcher Woche ein Abbruch vorgenommen werden darf. Bei jeder Regulierung und Begrenzung müssen jedoch die Menschenrechte geachtet werden, um daraus resultierende Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen auszuschliessen.
Zudem ist festzustellen, dass Schwangerschaftsabbrüche in späteren Stadien der Schwangerschaft relativ selten sind. In England und Wales werden beispielsweise nur 8 Prozent der Abtreibungen nach der 12. Schwangerschaftswoche und nur 0,1 Prozent der Abbrüche in oder nach der 24. Schwangerschaftswoche durchgeführt.
Allerdings wird es auch stets Fälle geben, in denen schwangere Personen zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft Zugang zu einem Abbruch benötigen, insbesondere wenn die Gesundheit oder das Leben der Schwangeren gefährdet sind.
Es gibt eine Vielzahl von Gründen, warum Personen in einem späteren Stadium der Schwangerschaft einen Abbruch benötigen. Zu diesen Gründen gehört auch strukturelle Ungleichheit, durch die sie gehindert werden, zu einem früheren Zeitpunkt der Schwangerschaft Zugang zur Gesundheitsvorsorge zu erhalten.
Wer einen Abbruch zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Schwangerschaft wünscht, befindet sich häufig in einer sehr schwierigen Situation. Diese Menschen benötigen eine gute Gesundheitsversorgung sowie kompetente Unterstützung und keine Verurteilung. Regierungen haben dafür zu sorgen, dass Menschen in kritischen Lebenslagen der Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch nicht verwehrt wird.
9. Befürwortet Amnesty International die gezielte Abtreibung von Föten aufgrund ihres Geschlechts?
Amnesty International richtet sich gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und gegen Geschlechterstereotype. Diese äussern sich in manchen Gesellschaften dadurch, dass die Geburt eines Sohnes bevorzugt wird, und können zu gezielten Abbrüchen je nach Geschlecht führen.
Die Einschränkung des Zugangs zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch ist jedoch keine Antwort auf strukturelle Diskriminierung. Amnesty International setzt sich auch weiterhin für die vollständige Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen unabhängig von den Gründen ein. Wir fordern die Staaten dazu auf, dringende Massnahmen zu ergreifen, die der geschlechtsspezifischen Diskriminierung und der Verweigerung wirtschaftlicher und sozialer Rechte, die zu Abtreibungen nach der Bestimmung des Geschlechts führen können, ein Ende bereiten.
10. Wird durch die Forderung nach einem Schwangerschaftsabbruch auf Verlangen nicht der Diskriminierung behinderter Menschen Vorschub geleistet?
Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hält an dem Grundsatz fest, dass die Entscheidung über die Fortsetzung einer Schwangerschaft nach der Diagnose einer fötalen Beeinträchtigung bei der schwangeren Person liegen sollte.
Regierungen können die Rechte von Menschen mit Behinderungen am besten stärken und Diskriminierung gegen sie am wirksamsten bekämpfen, indem sie Gesetze verabschieden und Massnahmen ergreifen, die ihre Selbstbestimmung und Menschenrechte unterstützen und gewährleisten, dass sie gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
11. Könnte die Haltung von Amnesty International als Ermutigung zu Schwangerschaftsabbrüchen verstanden werden?
Nein. Wir fordern Regierungen auf, ein Umfeld zu schaffen, in dem alle, die einen Schwangerschaftsabbruch wünschen, sicheren Zugang dazu haben, ohne Diskriminierung, Gewalt oder Zwang und ohne stigmatisiert zu werden.
Die Gründe, warum sich Menschen für eine Beendigung ihrer Schwangerschaft entscheiden, sind komplex und sehr persönlich, und das Thema erfordert sehr viel Einfühlungsvermögen.
Die Einschränkung des Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen führt nicht dazu, dass es keine Abbrüche mehr gibt. Sie zwingt Menschen lediglich dazu, sich auf unsichere Schwangerschaftsabbrüche einzulassen, mit denen sie ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.
12. Vertritt Amnesty International die Auffassung, dass medizinische Fachkräfte gezwungen werden sollten, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, auch wenn das ihrer Überzeugung widerspricht?
Nach dem Völkerrecht sind Staaten nicht dazu verpflichtet, eine Verweigerung der medizinischen Behandlung aus Gewissensgründen oder religiöser Überzeugung als Menschenrecht zu akzeptieren. ExpertInnen der Vereinten Nationen weisen darauf hin, dass Staaten, die diese Möglichkeit eröffnen, sicherstellen müssen, dass solche Weigerungen nicht den Zugang Schwangerer zu Einrichtungen gefährden, die sichere Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Das bedeutet, dass medizinisches Personal, das keine Schwangerschaftsabbrüche durchführen will, zumindest in der Form Hilfestellung leisten muss, dass es unter anderem korrekte Informationen gibt und Schwangere zeitnah an eine andere Einrichtung überweist, die Schwangerschaftsabbrüche vornimmt.
Medizinische Fachkräfte müssen unabhängig von ihrer persönlichen Überzeugung oder ihren Bedenken immer eine gesundheitliche Versorgung leisten, wenn die Behandlung notwendig ist, um das Leben einer schwangeren Person zu retten oder bleibende Schäden abzuwenden. Dies gilt auch, wenn die Nachbehandlung eines Schwangerschaftsabbruchs lebensnotwendig oder eine Überweisung an eine andere Einrichtung nicht möglich ist.
Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat zudem erklärt, dass Staaten dafür sorgen müssen, dass immer genügend öffentliche und private medizinische Einrichtungen in erreichbarer Entfernung zur Verfügung stehen, die willens und in der Lage sind, diese Leistungen für alle bereitzustellen, die sie benötigen.