Der Einmarsch Russlands in die Ukraine löste eine humanitäre und menschenrechtliche Krise aus − auch für Menschen in Ländern fernab des Konfliktes. © Amnesty International
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine löste eine humanitäre und menschenrechtliche Krise aus − auch für Menschen in Ländern fernab des Konfliktes. © Amnesty International

Amnesty International Report 2022/23 - Medienmitteilung Internationales System ungeeignet für Lösung globaler Krisen

Medienmitteilung 28. März 2023, London/Bern – Medienkontakt
Die Invasion Russlands in der Ukraine führte zu zahlreichen Kriegsverbrechen, löste eine weltweite Energie- und Nahrungsmittelkrise aus und zerrüttete ein bereits geschwächtes multilaterales System. Darüber hinaus trat die Doppelmoral westlicher Staaten zutage, die auf den Angriffskrieg des Kremls zwar deutlich reagierten, schwere Menschenrechtsverletzungen anderswo jedoch duldeten oder gar an ihnen beteiligt waren. Diese Schlüsse zieht Amnesty International in der alljährlichen Bewertung der weltweiten Lage der Menschenrechte.

Der Amnesty International Report 2022/23 zur weltweiten Lage der Menschenrechte (PDF, in Englisch) dokumentiert, wie die Regierungen unterschiedliche Standards anwenden und damit zu Straflosigkeit und Instabilität beitragen. Menschenrechtsverstösse konnten so überall auf der Welt widerspruchslos stattfinden oder wurden gar angefacht – so erhob kaum jemand die Stimme gegen die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien In Saudi-Arabien wird die Todesstrafe weiterhin breit angewendet. Die Rechte der Frauen sind ebenso unterdrückt wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die grausame Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi und der Fall des Bloggers Raif Badawi sind nur Beispiele für die Willkür von Regierung und Justiz. Im Konflikt in Jemen ist die von Saudi-Arabien angeführte Koalition für Kriegsverbrechen verantwortlich; gegen die Repression in Ägypten oder das Apartheidsystem der israelischen Regierung über die Palästinenser*innen.

Der Amnesty Report wirft auch ein Schlaglicht auf die skrupellosen Taktiken Chinas zur Vermeidung internationaler Massnahmen gegen die in Xinjiang begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er beleuchtet gleichzeitig das Unvermögen globaler und regionaler Institutionen angemessen auf Konflikte zu reagieren, die etwa in Äthiopien, Myanmar oder im Jemen Tausenden von Menschen das Leben kosteten.

«Die russische Invasion der Ukraine ist ein abschreckendes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn Staaten der Ansicht sind, ungestraft gegen Menschenrechte und Völkerrecht verstossen zu können.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International

«Die russische Invasion der Ukraine ist ein abschreckendes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn Staaten der Ansicht sind, ungestraft gegen Menschenrechte und Völkerrecht verstossen zu können», mahnt Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.

«Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde vor 75 Jahren aus der Asche des Zweiten Weltkriegs geschaffen. Ihr Herzstück ist die allgemeingültige Anerkennung der Rechte und Grundfreiheiten aller Menschen. Die Menschenrechte sollten ein Leuchtfeuer sein, damit wir das zunehmend unbeständige und gefährliche Fahrwasser, in dem sich Welt bewegt, sicher durchkreuzen können. Wir dürfen nicht abwarten, bis die Welt erneut in Flammen steht.»

Freipass für Krieg und Unterdrückung

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine löste eine der schwersten humanitären und menschenrechtlichen Krisen in der jüngeren Geschichte Europas aus. Mit dem Konflikt gingen nicht nur massenhafte Vertreibung, Kriegsverbrechen, eine globale Energieverknappung und Ernährungsunsicherheit einher – auch zeigte sich die hässliche Fratze eines möglichen Atomkriegs.

Der Westen reagierte umgehend, indem er Wirtschaftssanktionen über Russland verhängte und militärische Unterstützung in die Ukraine schickte. Der Internationale Strafgerichtshof leitete Ermittlungen zu Kriegsverbrechen ein und die Uno-Generalversammlung verurteilte die russische Invasion als Akt der Aggression. Diese resolute und begrüssenswerte Haltung stand jedoch in Gegensatz zur Passivität, mit der auf frühere schwerwiegende Verstösse Moskaus und anderer Akteure reagiert worden war. Auch die Massnahmen auf gegenwärtige Krisen wie z. B. in Äthiopien, Myanmar oder in den von Israel besetzten Gebieten waren völlig unzureichend.

Für Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland war 2022 eines der tödlichsten Jahre seit Beginn der systematischen Erfassung der Opferzahlen durch die Vereinten Nationen im Jahr 2006: Über 150 Menschen, darunter Dutzende Kinder, wurden von israelischen Streitkräften getötet. Israelische Behörden vertrieben nach wie vor Palästinenser*innen aus ihren Wohnungen und Häusern, und die Regierung schmiedete Pläne zur drastischen Ausweitung illegaler Siedlungen im gesamten Westjordanland. Anstatt von Israel ein Ende des Apartheidsystems einzufordern, gingen viele westliche Regierungen dazu über, diejenigen anzugreifen, die dieses System anprangern.

Europäische Staaten öffneten ihre Grenzen für Menschen, die aufgrund des russischen Angriffskriegs aus der Ukraine flohen. Allerdings hielten viele von ihnen die Türen verschlossen, wenn es um Menschen ging, die etwa aus Syrien, Afghanistan oder Libyen vor Krieg und Unterdrückung flohen.

Kritik auch an der Schweiz: Doppelstandards gegenüber Geflüchteten

«In der Schweiz war die rasche Unterstützung und grosse Solidarität für Geflüchtete aus der Ukraine enorm. Leider sehen sich Asylsuchende anderer Nationalitäten, denen nur eine vorläufige Aufnahme gewährt wurde, grossen Widrigkeiten gegenüber. Wir sollten von den positiven Erfahrungen lernen und die Situation für alle Geflüchteten verbessern», sagte Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz.

«In der Schweiz war die rasche Unterstützung und grosse Solidarität für Geflüchtete aus der Ukraine enorm. Leider sehen sich Asylsuchende anderer Nationalitäten, denen nur eine vorläufige Aufnahme gewährt wurde, grossen Widrigkeiten gegenüber.» Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz

«Mehrere Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Bundesasylzentren wurden zurückgestellt. Auch bei Zwangsrückführungen haben die Behörden wiederholt unnötige Härte an den Tag gelegt. So kritisierte auch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter die teilweise Fixierung bei Zwangsrückführungen oder die unzureichende Berücksichtigung der Kinderrechte bei Ausschaffungen.»

Im Kapitel des Amnesty-Jahresberichts zur Schweiz wird zudem auf einen Bericht der Uno-Arbeitsgruppe von Sachverständigen für Menschen afrikanischer Abstammung verwiesen. Diese hatte systemischen Rassismus in der Schweiz festgestellt und ein ausdrückliches Verbot von Racial Profiling bei Polizei und Behörden verlangt. «Auch Amnesty International empfiehlt der Schweiz, unabhängige Beschwerdestellen zu schaffen, um Fehlverhalten von Polizeikräften aufzudecken und zu ahnden», erklärte Alexandra Karle.

Aus Doppelmoral erwachsen weitere Menschenrechtsverstösse

«Die Reaktionen auf den russischen Einmarsch in die Ukraine haben aufgezeigt, was alles möglich ist, wenn nur der nötige politische Wille vorhanden ist. Wir haben gesehen, wie russische Völkerrechtsverstösse weltweit verurteilt, Verbrechen untersucht und Grenzen für Geflüchtete geöffnet wurden. Diese Reaktion muss eine Vorlage dafür sein, wie wir allen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen entgegentreten», so Agnès Callamard.

Die doppelten Standards des Westens gaben Ländern wie China, Ägypten und Saudi-Arabien die nötige Deckung, um Kritik an ihrer Menschenrechtsbilanz auszuweichen. Obwohl in China massive Menschenrechtsverletzungen gegen die Uigur*innen und andere muslimische Minderheiten begangen wurden, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, entkam Peking einer internationalen Verurteilung durch die Generalversammlung, den Sicherheitsrat und den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen.

«Staaten können nicht im einen Moment Menschenrechtsverletzungen kritisieren und im nächsten dann vergleichbare Aggressionen in anderen Ländern hinnehmen, nur weil ihre Interessen auf dem Spiel stehen.» Agnès Callamard

«Internationale Menschenrechtsnormen wurden je nach Fall unterschiedlich angewendet, was eine eklatante Scheinheiligkeit und Doppelmoral offenbarte. Staaten können nicht im einen Moment Menschenrechtsverletzungen kritisieren und im nächsten dann vergleichbare Aggressionen in anderen Ländern hinnehmen, nur weil ihre Interessen auf dem Spiel stehen. Das ist gewissenlos und untergräbt die Grundprämisse allgemeingültiger Menschenrechte», sagte Agnès Callamard.

Unterdrückung Andersdenkender rund um den Globus

Im Jahr 2022 mussten sich in Russland Kritiker*innen vor Gericht verantworten und Medienunternehmen wurden geschlossen, weil sie den Krieg in der Ukraine thematisiert hatten. In Afghanistan, Äthiopien, Belarus, Myanmar, Russland und vielen weiteren konfliktgeschüttelten Ländern weltweit kamen Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Oppositionelle in Haft.

In diversen Ländern verabschiedeten die Behörden neue Gesetze zur Einschränkung von Demonstrationen. Neue Technologie wurde als Waffe gegen Menschen eingesetzt, um diese zum Schweigen zu bringen, öffentliche Versammlungen zu verhindern oder Fehlinformationen zu verbreiten. Besonders die Rechte von Frauen waren in zahlreichen Ländern unter Druck. In den USA hob der Oberste Gerichtshof eine langjährige verfassungsrechtliche Garantie für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen auf.

Im Iran reagierten die Behörden auf die beispiellosen Massenproteste gegen Jahrzehnte der Unterdrückung mit äusserster Brutalität. Durch den rechtswidrigen Einsatz von scharfer Munition, Metallgeschossen, Tränengas und tätlicher Gewalt wurden Hunderte Menschen getötet, darunter auch zahlreiche Minderjährige. In Peru kam es im Dezember nach der Entmachtung von Präsident Castillo zu einer politischen Krise und zu Protesten, bei denen die Sicherheitskräfte rechtswidrige Gewalt anwandten, insbesondere gegen Indigene und Kleinbäuer*innen.

Globale Untätigkeit trotz existenzieller Bedrohungen

Im Jahr 2022 waren die Nachwirkungen der Coronapandemie weltweit noch zu spüren. Auch die Folgen des Klimawandels und die durch den Krieg in der Ukraine entstandenen Wirtschafts- und Nahrungsmittelkrisen wirkten sich negativ auf die Menschenrechte aus. In Afghanistan lebten 97 Prozent der Bevölkerung in Armut. In Haiti war 40 Prozent der Bevölkerung von akuter Ernährungsunsicherheit bedroht, nachdem es durch die Gewalt von Banden zu einer politischen und humanitären Krise kam.

Die Erderwärmung verstärkte extreme Wetterereignisse, die in mehreren Ländern südlich der Sahara und in Südasien Hunger und Krankheiten zur Folge hatten; so etwa nach den Flutkatastrophen in Pakistan und Nigeria. Doch selbst vor diesem Hintergrund agierten Regierungen nicht im Interesse der Menschheit. Die kollektive Untätigkeit beim Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen zeigte einmal mehr auf, wie unwirksam die derzeitigen multilateralen Systeme sind.

Dringende Reform der internationalen Institutionen

Es ist entscheidend, dass die internationalen Institutionen und Systeme, die unsere Rechte schützen sollen, gestärkt werden statt sie weiter auszuhöhlen. Hierfür müssen zunächst die Uno-Menschenrechtsmechanismen vollständig finanziert werden. Nur so können die notwendigen Untersuchungen getätigt werden, die eine Rechenschaftspflicht ermöglichen und für Gerechtigkeit zu sorgen.

Amnesty International fordert zudem eine Reform des Uno-Sicherheitsrats, des wichtigsten Entscheidungsgremiums der Vereinten Nationen. Vor allem Staaten im Globalen Süden, die bislang häufig ignoriert wurden, müssen vermehrt zu Wort kommen und missachtete Menschenrechtsthemen müssen besser beachtet werden.

Eine lebendige Menschenrechtsbewegung

«Es ist nicht einfach, angesichts von Gewalttaten und Menschenrechtsverletzungen die Hoffnung zu behalten. Doch im gesamten letzten Jahr haben couragierte Menschen gezeigt, dass wir nicht machtlos sind», so Agnès Callamard.

«Wir haben beeindruckende Akte des Widerstands erlebt: von afghanischen Frauen, die gegen die Taliban-Herrschaft protestierten, bis hin zu iranischen Frauen, die sich ohne Kopftuch zeigten oder sich die Haare abschnitten, um gegen die diskriminierenden Verschleierungsgesetze ihres Landes zu demonstrieren. Millionen Menschen gingen auf die Strasse, um eine bessere Zukunft einzufordern. Das sollte den Mächtigen eine Warnung sein, dass wir es nicht einfach hinnehmen werden, wenn unsere Würde, Gleichheit und Freiheit angegriffen werden.»