Die Mehrheit der medizinischen Darstellungen zeigt weisse Menschen: Chidiebere Ibe wollte das ändern und veröffentlichte eine Zeichnung eines Schwarzen Fötus. © Science Photo Library SPL / DK Images / Keystone © Chidiebere Ibe
Die Mehrheit der medizinischen Darstellungen zeigt weisse Menschen: Chidiebere Ibe wollte das ändern und veröffentlichte eine Zeichnung eines Schwarzen Fötus. © Science Photo Library SPL / DK Images / Keystone

MAGAZIN AMNESTY Amnesty-Magazin September 2023: Recht auf Gesundheit Rassismus im weissen Kittel

Von Olalla Piñeiro Trigo. Erschienen in «AMNESTY – Magazin der Menschenrechte» vom September 2023.
Im Gesundheitswesen halten sich rassistische Vorurteile hartnäckig. Diese können zu Fehldiagnosen, verspäteter oder falscher Behandlung führen – mit gravierenden Folgen für die Patient*innen.

Als der Medizinstudent Chidiebere Ibe eine Zeichnung eines Schwarzen Fötus in einem Schwarzen Mutterleib online stellte, sorgte er für einen Medienwirbel. Der junge Nigerianer hatte sich darüber gewundert, dass in den medizinischen Lehrbüchern keine Darstellungen von Schwarzen Menschen zu finden waren. Mit seiner Zeichnung wollte er das ändern; damit stiess er eine längst notwendige Debatte über die Problematik von Rassismus im Gesundheitssystem an.

Rassifizierte Menschen werden in der medizinischen Forschung systematisch ausgeschlossen.

Rassifizierte Menschen werden in der medizinischen Forschung systematisch ausgeschlossen, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen. So zeigt eine 2021 veröffentlichte US-Studie, dass nur 16 Prozent der Proband*innen in klinischen Tests People of Color sind, obwohl sie mehr als 39 Prozent der Bevölkerung der USA ausmachen. Schwarze und lateinamerikanische Bevölkerungsgruppen sind besonders stark unterrepräsentiert, wie aus dem jüngsten Bericht der US-amerikanischen Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) hervorgeht. Dieser Mangel an Vielfalt bei den Proband*innen hat denn auch Konsequenzen bei der Behandlung von People of Colour.

Auch medizinische Hilfsmittel sind oft nicht angepasst. So hat der britische Gesundheitsdienst NHS davor gewarnt, dass bei dunklen Hauttypen die Ergebnisse des Pulsoximeters, der den Sauerstoffgehalt im Blut misst, zu hoch ausfallen. Diese Verzerrung, die mit bestimmten Hauttönen zusammenhängt, verhindert somit die Erkennung möglicher Atemprobleme.

Mehrere Studien der französischen Soziologin Dorothée Prudʼhomme zeigen diskriminierende Praktiken gegenüber Roma-Patient*innen. Kulturelle Stereotypen wirken sich insbesondere auf die Behandlung von schwangeren Frauen aus: Wenn eine jugendliche Romni schwanger ist, fragen Ärzt*innen nicht, ob das Kind erwünscht oder die Folge einer Vergewaltigung ist, mit der Begründung, dass es in ihrer «Kultur» liege, in jungen Jahren Kinder zu bekommen. Dieser vermeintliche kulturelle Unterschied führt dazu, dass Gynäkolog*innen häufig davon absehen, den Romnja Verhütungsmittel anzubieten, obwohl sie eigentlich danach verlangen würden.

«Rassistische Vorurteile sind schwer zu erkennen, da sie oft unbewusst sind. Die Menschen klammern sich an Stereotypen, besonders in einer Stresssituation.» Prof. Patrick Bodenmann, Leiter der Abteilung Vulnerabilitäten und Sozialmedizin bei Unisanté

Fehldiagnosen mit Folgen

«Rassistische Vorurteile sind schwer zu erkennen, da sie oft unbewusst sind. Die Menschen klammern sich an Stereotypen, besonders in einer Stresssituation. Deshalb ist die Ärzteschaft besonders gefährdet», sagt Professor Patrick Bodenmann. Der Leiter der Abteilung Vulnerabilitäten und Sozialmedizin bei Unisanté gibt zu, dass er selbst auch nicht immer über die eigene Voreingenommenheit erhaben sei. Er berichtet von einer Studie mit verschleierten Frauen, die erklärten, dass sie «Schmerzen im Körper » hätten. «Wir dachten, es handle sich um ein allgemeines Unwohlsein oder eine Depression aufgrund der Traumata des Balkankriegs in den 1990er-Jahren. Bis ein Kollege einen Bluttest machte und einen Vitamin- D-Mangel feststellte », sagt Bodenmann.

Manche Krankheiten verlaufen bei Menschen mit verschiedenen Hautfarben auf unterschiedliche Weise. Gerade Hautkrankheiten haben oft andere Erscheinungsbilder. Bei Ekzemen zum Beispiel treten bei weisser Haut rote Flecken auf, die bei Schwarzer Haut schwerer zu erkennen sind. Diese Unkenntnis kann zu Fehldiagnosen führen. «Ich kenne Leute, die ausschliesslich Schwarze Dermatolog*innen aufsuchen oder solche, die auf diese Thematik sensibilisiert sind», sagt Miguel Shema, Medizinstudent und Gründer des Instagram-Accounts «Santé & Politique».

Verbündete des Kolonialismus

Miguel Shema wurde während seiner Praktika mehrmals Zeuge von Rassenbias, also von einer systematisch verzerrten Wahrnehmung. So auch bei einer nordafrikanischen Patientin, die unter Kieferschmerzen litt. «Das Elektrokardiogramm zeigte klare Anzeichen eines Herzinfarkts. Die Chefärztin wollte aber weitere Ergebnisse abwarten, da sie annahm, dass es sich um ein ‹mediterranes Syndrom› handle. Nur dank des Eingreifens einer anderen Führungskraft wurde die Patientin schliesslich korrekt behandelt», sagt er. Auch die starken Bauchschmerzen der Französin Naomi Musenga wurden nicht ernst genommen, als diese den Notarzt rief: Sie starb fünf Stunden später, weil sie nicht richtig behandelt wurde.

Mit dem «mediterranen Syndrom» wird die Vorstellung bezeichnet, dass aus dem Maghreb stammende Menschen Schmerzen übertrieben würden, da sie sie dramatischer ausdrücken würden, fasst Delphine Pereittis-Courtis, eine französische Historikerin mit Schwerpunkt Kolonialmedizin und Autorin des Buches «Corps noirs et médecins blancs» (Schwarze Körper und weisse Ärzte), zusammen. Diese fatale falsche Annahme wurde dann auf Menschen aus Subsahara- Afrika und aus dem Mittelmeerraum ausgeweitet. «Krankheiten allein auf kulturelle Faktoren zurückzuführen, lässt jegliche wissenschaftliche Grundlage ausser Acht», kritisiert Miguel Shema.

Solche rassistischen Vorurteile sind ein Erbe der Kolonialzeit. «Als Ärzt*innen nach Afrika reisten, entwickelten sie rassistische biologische Theorien, deren Verbreitung im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Schwarze Menschen hatten ihrer Meinung nach einen widerstandsfähigeren Körper, weil die Sonne und die Sklaverei ihre Körper gestärkt hätten», sagt Delphine Pereittis-Courtis. Sie erinnert daran, dass die Medizin eine Verbündete der Kolonialpolitik war und es ermöglichte, die Ausbeutung von Arbeitskräften zu rechtfertigen. Als Folge dieser kolonialistischen Theorien werden Schwarzen Menschen bis heute weniger Schmerzmittel verschrieben als weissen. Besonders hart trifft es Schwarze Frauen, denen bei der Geburt oftmals eine Epiduralanästhesie verweigert wird.

1960 erkannte die Wissenschaft schliesslich an, dass die Rassentheorie falsch ist. Die Stereotypen wurden dadurch jedoch nicht beseitigt: Statt die Auswirkungen des strukturellen Rassismus aufzuarbeiten, wird dieser gerade in Europa oft geleugnet. So gibt es in vielen europäischen Ländern keine medizinischen Statistiken, welche die Hautfarbe einbeziehen. «Die Schweiz hat im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern einen grossen Rückstand in der Forschung. Auf biomedizinischer Ebene wird die ethnische Variable nicht ausreichend berücksichtigt», sagt Patrick Bodenmann.

Die Dinge beginnen sich jedoch zu ändern. Bücher, Ärzt*innen und Aktivist*innen thematisieren diese Herausforderungen immer öfter. In der Schweiz hat die Universität Lausanne Pionierarbeit geleistet, indem sie ein Pflichtmodul über die Sensibilisierung für rassistische Praktiken im Medizinstudium aufgenommen hat. «Das Ziel ist es, den Student*innen ihre Voreingenommenheit bewusst zu machen und sie zur Selbstkritik zu bewegen», sagt Patrick Bodenmann. «Auch wenn noch einige Anstrengungen nötig sind, bewegen wir uns auf eine inklusivere Medizin zu.» Auch Miguel Shama setzt sich für ein «politisierteres» Gesundheitswesen ein, das die sozio-historischen Dimensionen in die Praxis einbezieht.