Der Bericht zu den Geschehnissen im Militärgefängnis Saydnaya hat zu heftigen Reaktionen geführt. © Amnesty International
Der Bericht zu den Geschehnissen im Militärgefängnis Saydnaya hat zu heftigen Reaktionen geführt. © Amnesty International

Kommentar Syrien: Alles nur Fake-News?

Gastkommentar von Reto Rufer und Beat Gerber, NZZ vom 31. März 2017
Es ist nichts Neues, dass Regierungen unliebsame Amnesty-Berichte als «falsch», «unausgewogen» oder «politisch motiviert» zu delegitimieren versuchen. Der Bericht «Human Slaughterhouse» über Massenhinrichtungen und systematische Folter im syrischen Militärgefängnis Saydnaya hat diesbezüglich jedoch ganz neue Dimensionen erreicht.

In «Exklusiv»-Interviews wies das telegene Gesicht des syrischen Regimes, Präsident Asad, die schweren Vorwürfe pauschal als «Fake News» ab. Diverse russische Staatsmedien wie Novosti, Russia Today oder Sputnik – inzwischen auch hierzulande mit professionell aufbereiteten deutschsprachigen Newsportalen präsent – führten eine eigentliche Kampagne gegen den Bericht, bezeichneten ihn als Teil eines «Informationskrieges» oder setzten die Behauptung in die Welt, die Amnesty-Researcher arbeiteten für westliche Geheimdienste. Auch in der Schweiz wurden diese Darstellungen in zahlreichen Zuschriften und Kommentaren auf den sozialen Medien aufgenommen – bis hin zu üblen Beschimpfungen oder gar Drohungen. Der Grundtenor: Amnesty war gar nicht vor Ort im Foltergefängnis von Saydnaya, betreibt als «Kriegstreiberin» Propaganda, steckt unter einer Decke mit der Uno, westlichen Regierungen und deren willfährigen «Lügenpresse». Diese Überzeugungen sind oft fest verankert und bedürfen keiner Belege. Sie sind zumeist auch nicht zu erschüttern, wenn wir antworten, dass Amnesty nie eine Militärintervention zum Sturz Asads gefordert hat, Menschenrechtsverletzungen der anderen Kriegsparteien ebenso kritisch dokumentiert und sich zu Saydnaya auf Interviews mit ehemaligen Häftlingen, Gefängnisangestellten und syrischen Richtern stützen musste, weil das Regime (offensichtlich mit gutem Grund) keine unabhängigen Beobachter in die Nähe seiner Haftanstalten lässt.

Warum bringt unsere Berichterstattung über Syrien viele Leute dermassen in Rage?

Doch warum bringt unsere Berichterstattung über Syrien viele Leute dermassen in Rage? Warum finden russische Staatsmedien oder Webseiten, die krude Verschwörungstheorien verbreiten, solch breiten Zuspruch? Warum glauben andere, die zwar nicht die grosse Verschwörung wittern, doch zumindest, die Wahrheit liege in der Mitte, zwischen Amnesty und Asad, zwischen «Sputnik» und «Spiegel»?

Wir denken, es spielt da viel hinein. Zum einen das Grauen, die Unübersichtlichkeit und die aussichtslos erscheinende Situation in Syrien und in der Region generell. Dann die durchaus berechtigte Kritik an der Doppelmoral des «Westens»: Dieser betont in seiner (Nahost-)Politik oft seine zentralen Werte Demokratie, Rule of law und Menschenrechte. Aber Guantánamo, Abu Ghraib oder die mit auf Lügen gegründete Intervention im Irak lasten da schwer auf der Glaubwürdigkeit – zumal weiterhin unterschiedliche Standards gelten, wenn etwa die saudische Intervention im Jemen logistisch und mit Waffen unterstützt wird. Aber es geht wohl noch um mehr:

Die Wahl Trumps oder die Bewunderung der «effizienten Machtpolitik» eines Putin sind auch Ausdruck einer Vertrauenskrise unseres Staats- und Gesellschaftsmodells.

Die Wahl Trumps oder die Bewunderung der «effizienten Machtpolitik» eines Putin sind auch Ausdruck einer Vertrauenskrise unseres Staats- und Gesellschaftsmodells: Politik? Korrupt und unproduktiv. Wirtschaft? Abzocker und Spekulanten. Medien? Lügenpresse und Fake News. Amnesty und andere NGOs? Teil des Systems, elitär und verlogen.

Noch ist es längst nicht die Mehrheit, die so denkt und fühlt. Aber das Unbehagen ist da. Und es liegt an uns allen, die lieber in einem demokratischen Rechtsstaat als in einem autoritären System putinscher Prägung oder einer «illiberalen Demokratie», wie sie Viktor Orban vorschwebt, leben, dagegen anzukämpfen. Auch wenn es unangenehm ist: Wir dürfen uns vom Hass, der von «alternativen» Medien und ihren Meinungsmachern manipulativ angeheizt und auf Twitter, Facebook und Co. multipliziert wird, nicht einschüchtern lassen. Freiheit und Menschenrechte müssen jeden Tag neu erkämpft und verteidigt werden, konsequent, selbstkritisch und  ohne doppelte Standards. Denn: Zynismus und Negierung des Grauens in Syrien sind keine Alternative, sondern ein Schlag ins Gesicht der Opfer und der Anfang vom Ende der Menschlichkeit auch hier.