In Griechenland verlässt ein Syrer mit seiner Tochter das Idomeni Lager nach einer Räumung durch die griechische Polizei. © Shutterstock
In Griechenland verlässt ein Syrer mit seiner Tochter das Idomeni Lager nach einer Räumung durch die griechische Polizei. © Shutterstock

Schweiz Die Schweiz und die Dublin-Verordnung

11. Mai 2017
Die Schweiz nimmt von allen europäischen Ländern am meisten Dublin-Überstellungen vor. Doch was genau verbirgt sich hinter dieser «Dublin-Verordnung»? Was sieht sie vor? Inwiefern profitiert die Schweiz von dieser Verordnung? Wie sieht es mit den Menschenrechten der Schutzbedürftigen aus?
Die Dublin-Verordnung: Was steckt dahinter?

Die Dublin-Verordnung ist ein zentraler Baustein des gemeinsamen europäischen Asylwesens. Die Schweiz hat sich dem von der Europäischen Union eingeführten Dublin-Eurodac-System angeschlossen und wendet die Dublin-Verordnung seit Dezember 2008 an. Dank ihr kann bestimmt werden, welches Land für die Bearbeitung eines Asylgesuchs zuständig ist, das von einem Angehörigen eines Drittstaates in einem der Mitgliedstaaten eingereicht wird. In den meisten Fällen sieht die Verordnung vor, dass das Ersteinreiseland in Europa das Asylgesuch eines Antragstellers oder einer Antragstellerin bearbeiten muss. Doch es werden auch zusätzliche Kriterien berücksichtigt, unter anderem, ob die Person Familienangehörige in einem europäischen Land hat oder ob einer der beteiligten Staaten ihr bereits ein Visum erteilt hat. Gestützt auf diese Verordnung können die Schweizer Behörden demnach eine Person, die in der Schweiz ein Asylgesuch einreicht, an denjenigen europäischen Staat überstellen, der für die Behandlung des Gesuchs als zuständig erachtet wird. Mit der Verordnung soll erreicht werden, dass jedes Asylgesuch nur in einem einzigen Land bearbeitet wird.

Inwiefern profitiert die Schweiz von der Dublin-Verordnung?

Die Dublin-Verordnung führt zu einer äusserst ungleichen Aufteilung der Verantwortlichkeiten im Asylwesen unter den europäischen Ländern. Da die Mehrheit der Asylsuchenden über den Seeweg nach Europa gelangt, sind es die Länder an den Aussengrenzen der Europäischen Union, wie Italien und Griechenland, denen die Bearbeitung der Mehrheit der Asylgesuche übertragen wird. Die Schweiz profitiert damit von ihrer geografischen Lage: Die meisten Asylsuchenden, die bis auf Schweizer Boden gelangen, mussten vorher ein anderes europäisches Land durchqueren und haben kein Visum für die Schweiz. Somit können sie in dieses Land zurückgeschickt werden.

Die Schweiz verfolgte eine strikte Anwendung der Dublin-Verordnung. Sie ist dasjenige Land in Europa, das seit 2009 am meisten Dublin-Überstellungen vorgenommen hat: Über 25 000 Personen wurden in andere europäische Länder zurückgeschickt. Das sind mehr als 15 % aller Asylsuchenden, die in die Schweiz gelangt sind. Im Vergleich dazu belaufen sich die Rücksendungen Deutschlands, einem der beliebtesten Zielländer, auf nur rund 3 % der Antragstellerinnen und Antragsteller.

Besorgniserregend ist insbesondere, dass die Schweiz Personen in Länder zurückschickt, in denen Amnesty International bereits die schlechten Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge und einen schwierigen Zugang zum Asylverfahren angeprangert hat, zum Beispiel nach Ungarn und Griechenland.

Sind die Menschenrechte der schutzbedürftigen Personen gewährleistet?

Die Dublin-Verordnung enthält eine Klausel, die vorsieht, dass jeder Vertragsstaat berechtigt ist, ein auf seinem Hoheitsgebiet eingereichtes Asylgesuch zu bearbeiten, selbst wenn ein anderer Staat als zuständig für die Behandlung des Gesuchs erachtet wird. Diese Klausel kann insbesondere aus humanitären Gründen geltend gemacht werden, oder um eine Zusammenführung von Familien zu ermöglichen. Die Schweizer Behörden wenden diese Klausel jedoch nicht oft an: Sie senden weiterhin besonders verletzliche Personen, darunter Familien mit kleinen Kindern und Kranke in Länder zurück, welche die Achtung ihrer Grundrechte nicht garantieren können. Zudem trennen sie Familien aus wenig überzeugenden Motiven: Zum Beispiel muss eine Mutter mit ihren Kindern nach Italien zurückkehren, während der Vater in der Schweiz bleiben darf, und dies nur, weil die Eltern nicht amtlich verheiratet sind. Diese Praxis verstösst in vielen Fällen gegen die Rechte des Kindes, die Rechte von Menschen mit Behinderungen und gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens.

Gegenwärtig ist die Schweiz dasjenige Land, das am meisten Personen nach Italien überstellt, obwohl Italien nicht in der Lage ist, allen verletzlichen Menschen eine Unterkunft und einen ihren Bedürfnissen gerechten Schutz zu bieten. 2016 schickte die Schweiz so über 40 Familien nach Italien zurück. Gemäss einer jüngst erschienenen Studie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe kann unmöglich vorausgesagt werden, was diese Familien in Italien erwartet, denn die Qualität der Behandlung und Unterbringung variiert sehr stark. Bei ihrer Ankunft auf italienischem Boden werden zahlreiche Familien in Aufnahmezentren untergebracht, die ihren Bedürfnissen nicht angemessen sind (SFH, Februar 2017).