Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg © REUTERS/Vincent Kessler
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg © REUTERS/Vincent Kessler

Gastbeitrag Selbstbestimmungsinitiative: ein Wolf im Schafspelz

Von Nils Melzer, erschienen in der NZZ vom 16. November 2018
Die Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» verspricht direkte Demokratie, Selbstbestimmung, Souveränität und Verfassungsstaat. In Wahrheit verkauft sie dem Stimmvolk aber Behördenautomatismus, Selbstentmündigung, Isolation und Rechtsunsicherheit.

Souveränität und Mündigkeit bedeuten, dass man frei und eigenverantwortlich Rechte und Pflichten begründen und auch wieder auflösen kann. Demokratische Selbstbestimmung bedeutet, dass das Volk und seine gewählten Vertreter jeden solchen Entscheid in voller Kenntnis aller Konsequenzen treffen können. Wenn man aber an jeden möglicherweise auftretenden Widerspruch zwischen Bundesverfassung und Völkerrecht bereits im Voraus einen automatischen Mechanismus zur Kündigung aller betroffenen Staatsverträge knüpft, verneint man im Einzelfall ja gerade die demokratische Entscheidungsfreiheit und setzt das Schweizervolk auf Gedeih und Verderb einem blinden Automatismus aus, dessen Konsequenzen kaum je in seinem Interesse sein dürften.

Selbstentmündigung

Eine solche Regelung bringt den Schweizern nicht demokratische Selbstbestimmung, sondern undemokratische Selbstentmündigung; denn sie macht aus selbstverantwortlichen, souveränen Bürgern ein Volk, das zu selbstbestimmter Willensbildung im Einzelfall nicht mehr fähig oder berechtigt ist und als verlässlicher Vertrags- und Investitionspartner für ausländische Staaten, Organisationen und Unternehmen nicht mehr infrage kommt. Langfristig würde die resultierende Rechtsunsicherheit der Wettbewerbsfähigkeit, der Zuverlässigkeit, der Glaubwürdigkeit und dem Wohlstand der Schweiz höchstwahrscheinlich schweren Schaden zufügen.

Die Vorstellung, die Schweiz könne sich jeder völkerrechtlichen Verpflichtung durch Nachverhandlung oder Kündigung von Staatsverträgen entledigen und gewissermassen als rechtlich autarker Inselstaat ihr Dasein fristen, ist vollkommen realitätsfremd. Einerseits ist jeder unilaterale Versuch einer Nachverhandlung etwa der EMRK oder der Uno-Charta von vornherein zum Scheitern verurteilt. Andererseits haben die wichtigsten völkerrechtlichen Verpflichtungen heute gewohnheitsrechtlichen oder gar zwingenden Charakter und können deshalb auch durch Kündigung nicht beseitigt werden.

Ob es uns nun passt oder nicht, das Völkerrecht als globale Verfassungsordnung ist längst zu einer Realität geworden. Die EMRK, die Genfer Konventionen und das übrige Völkerrecht sind nicht fremdes, sondern gemeinsam geschaffenes Recht, und auch das Strassburger Gericht ist kein fremdes, sondern ein gemeinsames Gericht mit Beteiligung von Schweizer Bürgern.

Ob es uns nun passt oder nicht, das Völkerrecht als globale Verfassungsordnung ist längst zu einer Realität geworden.

In der Praxis ist der Einfluss völkerrechtlich mandatierter Richter auf die Schweizer Rechtsordnung jedoch sowieso marginal. Denn wie die Schweizer Landesregierung nicht müde wird zu betonen, werden Beschwerden unserer Bevölkerung gegen unsere eigenen Behörden vom Strassburger Gericht nur in 1,6 Prozent der Fälle gutgeheissen. Nun ist es aber nicht so, dass 98,4 Prozent unserer Beschwerden nicht berechtigt wären, sondern so, dass die EMRK-Regierungen das Gericht so knapp finanzieren, dass es einen Grossteil der Beschwerden ohne nähere Prüfung abweisen muss. In Wahrheit wird die internationale Harmonisierung der Schweizer Rechtsordnung jedenfalls schon heute nicht durch das Strassburger Gericht vorangetrieben, sondern fast ausschliesslich durch unsere eigenen Bundesbehörden.

Demokratie und Rechtsstaat setzen voraus, dass Volksentscheide und Verfassungstext von den Behörden auch wirklich umgesetzt werden. In Wahrheit ist die Geltung der Bundesverfassung in der Schweiz jedoch nicht gewährleistet, können sich doch alle drei Staatsgewalten in vielerlei Hinsicht ungestraft darüber hinwegsetzen. So kann das Parlament Bundesgesetze erlassen, deren Bestimmungen vom Bundesgericht gar nicht erst auf Verfassungswidrigkeit überprüft werden dürfen.

Kein Verfassungsgericht

Der Bundesrat seinerseits kann trotz seinem Verfassungsauftrages zur Förderung von Frieden, Menschenrechten, Demokratie und Umweltschutz die Konzernverantwortungsinitiative ersatzlos ablehnen, die Bewilligung von Waffenexporten in Konfliktgebiete beschliessen und die Umsetzung unliebsamer Volksinitiativen verschleppen, welche zuvor trotz verfassungsrechtlich fragwürdigen Inhalten zur Abstimmung zugelassen wurden.

Die Bundesgerichtsbarkeit schliesslich kann sich bei unbequemen Beschwerden immer wieder zur Handlangerin der Verwaltung machen, bis hin zu blanker Rechtsverweigerung, ohne je vom Parlament zurückgepfiffen zu werden. Dies alles ist nicht überraschend, denn die Schweiz hat nach wie vor kein Verfassungsgericht.

Auch wenn hierzulande vieles besser ist als anderswo, in Wahrheit bleiben sowohl die Demokratie wie auch die Rechtsstaatlichkeit der Schweiz verletzlich, so dass ihre Bevölkerung viel dringender auf wirksamen Rechtsschutz durch das Völkerrecht und seine Institutionen angewiesen ist, als ihr lieb sein kann. Selbstbestimmung, Souveränität und Verfassungsstaat. Eine Entgegnung auf diese vier falschen Versprechen.

Erschienen in der NZZ vom 16. November 2018.