Andrew Gardner, Türkei-Researcher und Freund von Taner Kılıç. © AI
Andrew Gardner, Türkei-Researcher und Freund von Taner Kılıç. © AI

Kommentar Türkei: Die Zivilgesellschaft wird erstickt

Von Andrew Gardner, Türkei-Researcher bei Amnesty International. 31. Januar 2018, Istanbul
Andrew Gardner leitet die Recherche von Amnesty International zur Türkei. Sein Kommentar zum Prozess gegen Taner Kılıç und weitere Menschenrechtsaktivisten in Istanbul.

«Ich habe durch meine Arbeit viele tausend engagierte Menschen kennengelernt, aber niemand war so bemerkenswert und engagiert wie Taner Kılıç», sagt Michel Gaudé, der ehemalige Leiter des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Türkei. «Und doch steht Taner Kılıç heute vor Gericht wegen Terroranschuldigungen, die frei erfunden sind.» Sollte Taner Kılıç für schuldig befunden werden, drohen ihm bis zu 15 Jahre Gefängnis.

Anwalt der Schwächsten

Ich traf den engagierten Menschenrechtsanwalt und Präsidenten von Amnesty International Türkei erstmals im Jahr 2014. Damals wie heute war er ernst und zielstrebig, aber auch fröhlich und humorvoll. Ich mochte ihn sehr, aber vielmehr noch war ich tief beeindruckt von seinem unermüdlichen Einsatz für Flüchtlinge und Asylsuchende, die kaum jemanden anders hatten, an den sie sich wenden konnten.

«Taner Kılıç setzte sich unermüdlich ein für alle, die niemanden hatten, an den sie sich wenden konnten.» Andrew Gardner

Er kämpfte für diejenigen, die festgenommen oder ausgewiesen wurden. Er verhandelte mit den lokalen Behörden und stand vor Gericht für Menschen ein, die sonst keine Chance gehabt hätten. Er organisierte Menschenrechtsschulungen für Polizisten und Beamte. Und er mobilisierte und motivierte die Menschen vor Ort, um das Leben der Asylsuchenden zu verbessern. Er ist nicht nur ein erfolgreicher Anwalt, sondern auch ein leidenschaftlicher Fürsprecher für die Rechte von Flüchtlingen – eine fantastische Kombination für einen Menschenrechtsverteidiger.

Heute, inmitten der Niederschlagung der türkischen Zivilgesellschaft, brauchen wir Menschen wie Taner dringender denn je. Aber sein Fall zeigt: Wer in der Türkei die Freiheit seiner Mitmenschen verteidigt, riskiert seine eigene zu verlieren.

Vage Behauptungen, falsche Anschuldigungen

Taner wurde vor fast acht Monaten verhaftet und wegen «Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation» angeklagt. Die zentrale Anschuldigung gegen ihn besteht in der Behauptung, dass er die Messaging-Applikation ByLock heruntergeladen habe – von der die Behörden sagen, dass sie von der Gülen-Bewegung benutzt wurde. Diese soll gemäss der türkischen Behörden für den Putschversuch 2016 verantwortlich sein.

«Auch nach acht Monaten gibt es keine Beweise für die Anschuldigungen gegen Taner Kılıç.»

Auch nach acht Monaten Untersuchung war der Staat nicht in der Lage, glaubwürdige Belege zur Untermauerung dieser Behauptung zu liefern, geschweige Beweise für ein kriminelles Fehlverhalten. Im Gegenteil: Zwei unabhängige forensische Berichte haben ergeben, dass es keine Hinweise dafür gibt, dass ByLock jemals auf dem Handy von Taner Kılıç installiert war.

Menschenrechtler im Visier

Die lächerlichen Anschuldigungen gegen Taner sind nicht einzigartig. Vielmehr werden  MenschenrechtsverteidigerInnen heute ganz gezielt und nach immer gleichem Muster ins Visier genommen. Osman Kavala, ein in der Zivilgesellschaft angesehener Geschäftsmann und Philanthrop, wurde im Oktober verhaftet. Es konnten auch hier nichts vorgelegt werden, das die reisserische Behauptung untermauert hätte, er sei am Putschversuch beteiligt gewesen.

Ein weiterer Menschenrechtsverteidiger, Raci Bilici, Lehrer aus Diyarbakir und Präsident der dortigen Zweigstelle der Human Rights Association, wird der Mitgliedschaft in kurdischen Arbeiterpartei PKK beschuldigt, die von der Regierung als Terror-Organisation eingestuft wird.

«Wer sich in der Türkei aktiv und wirksam für die Menschenrechte einsetzt, zahlt einen hohen Preis.»

Die Botschaft ist klar: Wer sich aktiv und wirksam für die Menschenrechte einsetzt, der wird einen hohen Preis zahlen. Die gezielte Verfolgung prominenter Menschenrechtler dient dazu, die von ihnen vertretenen Gemeinschaften zu erschrecken und zum Schweigen zu bringen.

«Wie in einem bösen Traum»

Im vergangenen Monat mussten die türkischen Behörden einräumen, dass Tausende Menschen fälschlicherweise beschuldigt worden waren, ByLock heruntergeladen zu haben. Sie veröffentlichten Listen mit den Telefonnummern dieser 11‘480 Menschen, was eine riesige Freilassungswelle nach sich zog. Leider war Taner nicht darunter. Die Ungerechtigkeit seiner Inhaftierung ist offenkundig. Und trotzdem geht sein Prozess weiter.

Doch wir geben die Hoffnung nicht auf, dass die Ungerechtigkeit bald ein Ende hat. In den letzten acht Monaten haben mehr als eine Million Menschen aus 194 Ländern die Petition von Amnesty International für die Freilassung von Taner und die Einstellung der Anklage gegen die zehn anderen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger unterzeichnet.

«Ich fühle mich, als würde ich in einem bösen Traum leben, und warte darauf, aufzuwachen», sagte mir Gulnihal Kılıç, Taners Tochter bei der letzten Anhörung ihres Vaters. Ihn heute per Videoübertragung in einer Zelle im Gerichtssaal zu sehen, wird für Gulnihal schwer sein. Aber sie ist sehr stolz auf die Arbeit, die er für andere geleistet hat – und ich bin es auch. Ich bin stolz auf seine Entschlossenheit, für das einzustehen, was richtig ist. Aber vor allem bin ich stolz, ihn einen Freund nennen zu können.